Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
gewährte mir Asyl. Das ist für mich meine wahre Schandtat, für die ich das Leben im Labyrinth verdiene!«
»Kam Euch nie der Gedanke zu fliehen?«, fragte Seshmosis vorsichtig.
»Doch, durchaus. Und ich habe auch schon einen Plan, den ich eines Tages ausführen werde. Doch nicht um meinetwillen werde ich fliehen, sondern um Ikaros die Freiheit zu schenken.«
Plötzlich raste eine Gruppe von Rennern durch den Raum, ohne jedoch jemanden umzustoßen oder etwas zu beschädigen. Einer von ihnen kam nicht mehr rechtzeitig um die Ecke und lief voll gegen eine Wand. Er stand jedoch sofort wieder auf, schüttelte sich und rannte den anderen hinterher.
»Sie sind inzwischen sehr widerstandsfähig«, kommentierte Daedalos. »Früher kamen sie nicht so schnell wieder hoch. Sie scheinen sich zu einer eigenen, wesentlich robusteren Spezies zu entwickeln.«
»Zurück zu Eurem Fluchtplan, werter Daedalos. Könntet Ihr nicht den Termin Eures Vorhabens ein wenig vorziehen? Auf heute oder morgen vielleicht?«, bat Seshmosis.
»Bevor Ihr mich um diese Fluchtmöglichkeit bittet, lieber Seshmosis, solltet Ihr sie erst einmal kennen lernen. Es könnte durchaus sein, dass Ihr sie ablehnt.«
»Ich werde jede Möglichkeit nutzen, hier rauszukommen!«
»Gut. Ikaros, zeig unserem neuen Freund die Schwingen!«
Ikaros holte unter einer Pritsche zwei merkwürdige, armlange Stangen hervor, an denen mit Schnüren und Wachs unzählige Federn befestigt waren.
»Das ist unser Weg in die Freiheit!«, verkündete Daedalos stolz.
»Wie soll das denn funktionieren?«, fragte Seshmosis ungläubig.
»Es gibt oben im Labyrinth einen großen Freiluftbereich. Dort sind die Mauern zwar über fünfzehn Fuß hoch, aber mit diesen Schwingen können wir sie überwinden. Man schnallt sie sich an die Arme und schlägt dann wie ein Vogel mit den Flügeln.«
Seshmosis verstummte. Jetzt war er sich endgültig sicher, dass hier alle außer ihm verrückt waren.
»Ihr solltet diesen Fluchtplan vielleicht noch ein wenig reifen lassen«, schlug er schließlich vor.
*
Tafa und Mumal sorgten dafür, dass Nelos und Pelos möglichst unversehrt zu Glaukos gebracht wurden. Der Prinz schickte umgehend einen Diener, um seinen Vater und seine Brüder zu holen. Bald darauf erschienen Pasiphae, die Frau des Minos, und Deukalion, ihr jüngster Sohn. Der Minos litt unter Migräne und ließ sich entschuldigen. Katreus war nirgends zu finden. Die Tajarim hielten sich höflich im Hintergrund. Dennoch erspähte Pasiphae zielsicher El Vis und warf ihm begehrliche Blicke zu. Das alte Feuer, das sie einst für den Stier des Poseidon entflammen ließ, loderte wieder in ihr auf. Doch Kalalas blitzende Augen machten ihr klar, wo dieser Stier weidete und wo nicht.
Glaukos ergriff das Wort: »Nelos und Pelos! Was, in aller Götter Namen, veranlasst euch, unsere Gäste mit dem Schwert anzugreifen?«
Die beiden Angesprochenen schwiegen.
»Um eures Vaters Telos willen, der zu den größten aller Kreter gehört, bietet mir eine ehrenvolle Erklärung, die ich akzeptieren kann!«
»Unser Vater ist tot! Ermordet in Byblos. Wir sind sicher, dass diese Leute da, die sich Tajarim nennen, etwas mit seinem Tod zu tun haben!« Mit diesen Worten ergriff Nelos die Flucht nach vorn.
»Telos ist tot?«, rief Pasiphae entsetzt. »Das wird der Minos nicht überleben!«
»Ja, er ist tot. Wir waren selbst in Byblos und haben in diesem Mordfall Nachforschungen angestellt«, berichtete nun Pelos. »Jener, der sich Seshmosis nennt, ist nämlich im Besitz des Heiligen Amuletts von Phaistos. Des Amuletts, das die wahre Königswürde begründet. Wir suchen nach diesem Seshmosis, um es ihm wieder abzunehmen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Diese hier, die sich Tajarim nennen, wollten wir nur befragen, wo er sich aufhält, als sie uns plötzlich angriffen.«
Kalala spürte, dass die Situation zu kippen drohte. Hilfe suchend sah sie zu Nostr'tut-Amus.
Der Seher nickte ihr zu, trat nach vorn und sprach: »Es stimmt, dass Seshmosis das Amulett hat. Er kaufte es vor einiger Zeit von einem Händler im Hafenviertel von Byblos. Als Schreiber ist er eben ein Schriftfanatiker. Er wollte hier auf Kreta etwas über die Schriftzeichen auf dem Amulett erfahren, um sie zu entziffern. Er wäre doch niemals freiwillig hierher gekommen, wenn er es durch ein Verbrechen erworben hätte.«
»Oder er ist besonders abgebrüht!«, warf Nelos ein.
»Nein, das ist er nicht. Er ist ein sensibler, gottesfürchtiger
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