Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
würde, säße ich nicht hier. Ich bin ein Verlorener des Labyrinths. Alles ist Weg, nichts ist Ziel. Zu viele Wege, die doch nur zu neuen Wegen führen. Bin ein wegvoller, zielloser Hocker.«
Aram gab auf. Der Kerl war eindeutig verrückt. Da wollte er sich doch lieber wieder auf die Anweisungen des Schreins verlassen.
Als er nach vielen Gängen einen kleinen Raum erreichte, setzte er sich auf eine wurmstichige Holzbank, die dort einsam herumstand. Es war nicht die körperliche Müdigkeit, sondern die geistige, die ihn zu einer Pause zwang. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er immer nur Mauern vor sich.
Klappernde Geräusche rissen ihn aus seinen Gedanken. Dann standen sie vor ihm: zerlumpte, dreckige Gestalten, bewaffnet mit Knüppeln, Messern und undefinierbaren, aber scharfen Gegenständen. In ihren Gesichtern stand ein einziges Wort: Mord!
Ohne Vorwarnung griff die Gäng an. Aram spürte Schläge und Stiche, und nach einiger Zeit ließ er sich einfach umfallen. Die Angreifer schlugen, stachen und hackten weiter auf den am Boden Liegenden ein, bis Aram sich nicht mehr rührte. Erst dann wandten sie sich von ihm ab und brachen in ein Triumphgeheul aus. Dieses wurde jedoch jäh unterbrochen, als Aram fragte: »Seid ihr jetzt fertig?«
Wütend stürzten sie sich erneut auf ihn und wiederholten die Prozedur nun noch wilder, noch wütender und noch brutaler. Als sie endlich von ihm abließen, sprang Aram auf die Holzbank und brüllte: »Ihr Idioten könnt mich nicht umbringen, weil ich nämlich schon zwei Jahre tot bin!«
Lähmendes Entsetzen ergriff die Mitglieder der Gäng, das sich nach einigen Herzschlägen in Bewegungsenergie verwandelte. Wie von Furien gehetzt, rasten die Männer davon.
Aram klopfte sich den Staub aus den Kleidern, als er hinter sich schwere Schritte hörte. Nicht schon wieder!, dachte er und machte sich auf eine weitere Ermordung gefasst. Doch wer immer dort war, er blieb stehen und griff ihn nicht an.
Vorsichtig drehte sich Aram um. Und schloss sofort die Augen. Langsam öffnete er sie wieder, doch der Anblick veränderte sich nicht. Vor ihm stand ein hünenhafter Mann mit dem Kopf eines Stiers.
»Bei Apis und allen kuhgestaltigen Göttern Ägyptens, wer bist du?«, stammelte Aram.
»Ich bin Asterion, der Herr des Labyrinths, und du bist tot.«
»Meinst du das als Drohung oder als Feststellung?«, fragte Aram.
»Als Feststellung. Ich habe noch nie einen lebenden Toten getroffen. Eine interessante Lebensform«, sagte Asterion sachlich.
»Und wie lebt es sich mit einem Stierschädel?«, erkundigte sich Aram nun sichtlich beruhigt.
»Man kann sehr schlecht auf der Seite liegend schlafen, aber sonst ist es ganz angenehm. Allerdings weiß ich nicht, wie es außerhalb des Labyrinths wäre. Ich vermute, die Leute würden Steine nach mir werfen. Was führt dich eigentlich in mein Reich? Wurdest du verurteilt?«
»Nein. Dieser kleine Schrein wollte unbedingt, dass ich ihn zu meinem Freund Seshmosis bringe, der ebenfalls hier sein soll. Hast du ihn vielleicht gesehen?«
»Bis jetzt noch nicht. Aber früher oder später begegne ich jedem, der sich im Labyrinth aufhält. Wenn du jemanden treffen willst, bleib einfach bei mir!«, bot Asterion an.
*
Seshmosis brütete dumpf vor sich hin. Er sah keinen Ausweg, und auf sein Flehen an GON kam keine Reaktion. Er hatte es befürchtet, denn Seshmosis kannte die begrenzte Wirkungsweite seines kleinen Gottes. Nach etlichen ereignislosen Stunden erschienen Alexandros und Neros, die er inzwischen kennen gelernt hatte, und brachten Essen und zwei Krüge mit Wein. Nachdem er gesättigt war, fragte Seshmosis seinen neuen Freund Daedalos, warum die beiden im Labyrinth sein mussten.
»Alexandros erschlug im Rausch seinen Geliebten, und Neros versuchte, den Palast von Knossos in Brand zu stecken«, erklärte der Architekt.
Das sind also, außer mir und Daedalos, die beiden normalen Menschen im Labyrinth, dachte Seshmosis. Laut sagte er: »Warum Ihr hier seid, weiß ich von Ariadne.«
»Meine Beihilfe zum Ehebruch seiner Gattin mag wohl für den Minos der Grund gewesen sein, mich hier einzusperren. Für mich ist die Ursache für meine Bestrafung eine andere. Ich büße für meine Vergangenheit. Einst hatte ich einen Assistenten, meinen Neffen Perdix. Ein genialer junger Mann, der mich schon bald in allen Künsten übertraf. Aus Eifersucht und Neid stürzte ich ihn von der Akropolis in Athen. Dafür verbannte man mich, und König Minos
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