Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
beklagte Daedalos.
»Vielleicht solltet Ihr Eure Flucht doch etwas früher durchführen?«
In diesem Augenblick kehrten Alexandros und Neros mit Lebensmitteln schwer bepackt zurück.
»Wo ist Ikaros?«, fragte Daedalos besorgt.
»Ich weiß nicht«, sagte Neros schulterzuckend. »Gleich nachdem wir die Vorräte entdeckt hatten, ist er verschwunden. Er griff sich einige Portionen und einen Krug Wein und bog in einen Seitengang ein. Als wir ihm nachgehen wollten, blockierte eine Gruppe von Rennern unseren Weg.«
Daedalos erbleichte. »Er hat sich tatsächlich der Gäng angeschlossen. Ich wusste es!«
»Vielleicht hat er sich nur verlaufen«, versuchte Seshmosis den Erfinder zu beruhigen, aber Neros blieb hartnäckig: »Er hat sich eindeutig abgesetzt! Und als Einstandsgeschenk bringt er der Gäng von unseren Vorräten mit.«
»Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Ich habe ihn verloren!«, lamentierte Daedalos.
*
Theseus, Nelos und Pelos erreichten den Vorraum zum Labyrinth, der wie immer mit der Dienst habenden Wachmannschaft gut gefüllt war. Einige der Wächter putzten ihre Waffen, andere würfelten um ein paar Kupfermünzen.
Der Kommandant kannte die Söhne des Telos gut und fragte: »Wen bringt ihr denn heute? Das ist doch Theseus, der junge Athener? Was hat er denn angestellt?«
»Nichts«, antwortete Nelos mit seiner immer heiseren Stimme. »Wir müssen mit ihm ins Labyrinth.«
»Es gibt keine Besuche im Labyrinth, das wisst ihr doch. Wer hineingeht, der bleibt drin!«, erklärte der Kommandant entschieden.
»Willst du uns etwa aufhalten?«, fragte Nelos drohend.
»Nein. Es ist eure freie Entscheidung«, sagte er kühl.
»Wenn jemand meint, er müsse auf diese Art und Weise aus der Welt verschwinden, ist das seine Sache. Es kümmert mich nicht. Schreiber! Notiere ab morgen drei zusätzliche Essensrationen! Und du da!«, befahl er einem der würfelnden Wächter, »öffne das Tor und mach es ganz schnell wieder zu, wenn die drei durchgegangen sind!«
Nach einem kurzen Zögern durchschritten Theseus, Nelos und Pelos das Tor. Ganz wohl war ihnen bei der Sache nicht, und sie hatten nicht die leiseste Ahnung, ob sie je zurückkehren würden.
*
Das Tor hatte sich kaum hinter Theseus und seinen Kumpanen geschlossen, da erreichten schon Nostr'tut-Amus, Tafa und Mumal den Wachraum.
»Ist heute eigentlich Tag der offenen Tür?«, fragte der Kommandant genervt. Argwöhnisch beäugte er die Besucher. Vor allem Nostr'tut-Amus erweckte sein Misstrauen.
Der ergriff das Wort: »Wir müssen unbedingt ins Labyrinth! Ein Freund von uns wurde dort irrtümlich eingesperrt.«
»Das Labyrinth kennt keine Irrtümer. Und Besuche gibt es auch nicht! Wer hineingeht, bleibt drin!«
»Aber wir müssen zu ihm, es ist wichtig. Außerdem sind wir Touristen. Wir sind Gäste des Minos. Ihr müsst uns wieder herauslassen.«
»Sie müssen uns erst einmal hineinlassen«, mischte sich Mumal ein.
»Ja! Aber dann müssen sie uns wieder herauslassen«, erklärte Nostr'tut-Amus.
»Ich muss gar nichts! Viele möchten gern Gefangene besuchen – Mütter ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Männer ihre Geliebten. Ihr könnt hinein, aber nicht mehr heraus. Basta!«
»Hauptsache, wir kommen erst einmal hinein. Alles Weitere wird sich zeigen«, sagte Tafa ruhig. »Bitte öffne das Tor.«
»Bitte sehr, wie ihr wünscht.« Der Kommandant gab einem Wächter ein Zeichen, das Tor zu öffnen. Als die Tajarim verschwunden waren, sagte er zu seinem Schreiber: »Notiere ab morgen noch drei weitere Essensrationen.«
*
Eine innere Unruhe ließ Seshmosis rastlos auf und ab gehen. Daedalos beobachtete ihn besorgt und sagte schließlich: »Ich hoffe, Ihr werdet nicht zum Renner. Bei denen fängt es auch immer so an. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen gewissen Ibykos. Anfangs war er ein ganz ruhiger Typ, fast schon ein Hocker, schrieb dauernd Gedichte. Bis er anfing, beim Deklamieren seiner Lyrik auf und ab zu gehen, so wie Ihr gerade. Seine Gedichte nannte er sodann Raptoren, das ist aus der Sprache der Menschen, die im Westen leben, und heißt so viel wie Räuber, weil Ibykos meinte, der Dichter sei ein Dieb, der den Menschen die Wörter stiehlt. Seine Sätze wurden immer abgehackter, seine Sprache zum Singsang, seine Schritte immer schneller. Während er rappte, wie er seine Art des Vortragens bezeichnete, machte er die wildesten Verrenkungen und flatterte wie ein liebeskranker Kranich durchs Labyrinth. Und eines Tages
Weitere Kostenlose Bücher