Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Deukalion, des Glaukos' Bruder?«
»Ja doch! Willst du an meinen Worten und meinem Stand zweifeln?«, antwortete Idomeneus unwirsch. »Von Glaukos kam die Würde des Minos auf Deukalion, meinen Vater, und von ihm auf mich. Allerdings trage ich selbst den Titel nicht mehr so gern, weil mir die achäische Kultur näher steht.«
Achäische Kultur?, sagte Seshmosis zu sich selbst, um laut fortzufahren: »So hat sich also Euer Vater von den Knaben, äh, dem Theater abgewandt und sich doch noch den Staatsgeschäften gewidmet.«
»Dunkel ist deiner Rede Sinn, Fremder. Ich warne dich, mich zu beleidigen!« Idomeneus' Hand umfasste den Schwertgriff.
»Das liegt mir fern, edler Idomeneus«, versuchte Seshmosis schnell den Zürnenden zu besänftigten. »Mir scheint, unsere Irrfahrt hat uns ein wenig die Sinne verwirrt.«
Seshmosis befand sich in einem Zwiespalt. Wenn er Idomeneus das goldene Replikat des Heiligen Amuletts von Phaistos zeigen würde, wäre dieser ihm vielleicht gewogen. Andererseits gäbe es sicher unangenehme Fragen, wie er in den Besitz eines Stückes gekommen war, das einst Glaukos einem Fremden aus Ägypten gegeben hatte.
Odysseus beendete die Grübeleien des Schreibers und nahm ihm die Entscheidung ab: »Ihr solltet erst einmal euer Lager aufschlagen. Wir müssen nun weiter, denn wir haben Wichtiges zu tun. Wir müssen den großen Aias bestatten.«
Als die Achäer abgezogen waren, wandte sich Seshmosis an die Tajarim und die phönizischen Seeleute. »Ich muss euch etwas sagen. Wir haben uns total verirrt.«
»Das wissen wir bereits!«, unterbrach ihn Raffim unwirsch.
Unbeirrt fuhr Seshmosis fort: »Wir haben uns nicht nur im Raum verirrt, sondern auch in der Zeit!«
*
Kassandra streichelte dem jungen Metin zärtlich übers Haar. Kaum hörbar flüsterte sie. »Mein lieber Astyanax, mein kleiner Beschützer der Stadt. Keiner wird dich finden. Diesmal werde ich dafür sorgen, dass sich eine Prophezeiung nicht erfüllt.«
Der Junge zeigte keine Reaktion. Nichts ließ erkennen, ob er die Worte der Seherin verstanden hatte.
»Noch einen Döner, Kassandra? Mit allem und scharf?«, fragte Mursil.
»Nein, danke. Einer reicht mir. Und wie gehen die Geschäfte?«
»Ich bin zufrieden. Du weißt ja, wie es ist. Krieg ist gut fürs Geschäft. Frieden ist natürlich auch gut fürs Geschäft, aber im Krieg ist die Verdienstspanne ein bisschen höher.«
»Dann ist der Krieg wenigstens für dich und deine Familie gut. Pass mir auf den Jungen auf, treuer Mursil! Und bewahre sein Geheimnis!«, forderte Kassandra. Dann verabschiedete sie sich und ging ungehindert zurück Richtung Troja. Nur wenige Menschen streiften hier durch die Flussebene, und jeder von ihnen ging, die anderen nicht beachtend, seinen eigenen Angelegenheiten nach.
Während der langen Pausen zwischen den Kampfhandlungen besaßen die Bewohner der Stadt verhältnismäßig viel Bewegungsfreiheit. Vor allem durch das rückwärtige Dardanische Tor kamen ständig Nachschub und immer wieder frische Truppen nach Troja.
Den Achäern war es in den ganzen zehn Jahren nie gelungen, die Stadt von der Welt abzuschneiden.
*
Nach dem Abendessen versuchte Seshmosis verzweifelt seinen Gefährten klar zu machen, dass sie sich nicht mehr in ihrer eigenen Zeit befanden. Doch Raffim wischte alle Ausführungen des Schreibers als belanglos vom Tisch: »Es ist doch völlig gleichgültig, ob wir im fünften Jahr der Regentschaft von Pharao Ahmose oder im siebenundzwanzigsten von Qazabal von Byblos sind. Mir ist auch egal, ob in Kreta ein gewisser Minos herrscht oder sein Enkel Idomeneus. Ein Datum interessiert mich nur, wenn ich es als Zahlungsfrist setzen kann und beim Verstreichen meine Diener zum Eintreiben der Summe ausschicken darf.«
»Aber du könntest unter Umständen deinen eigenen Enkeln begegnen«, warf Seshmosis ein.
»Umso besser! Dann kann ich sie in meinem Geschäft einsetzen, ohne Lohn bezahlen zu müssen.«
Der Schreiber gab auf. Für Raffim gab es nur eine Zeit: die Gegenwart. Und die anderen verstanden anscheinend überhaupt nicht, worum es ging. Außer Nostr'tut-Amus vielleicht, der Seshmosis nachdenklich ansah. Aber der Seher lebte meistens in seinen Visionen, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowieso durcheinanderwirbelten.
Am nächsten Morgen machten sich Kalala, Tafa, Raffim, Barsil, Mani, Nostr'tut-Amus und Seshmosis auf, das Lager der Achäer aufzusuchen. Mit Freude nahm Raffim zur Kenntnis, dass sich in
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