Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
sinnlos. Du musst sie bei ihrer Ehre packen und zum Widerspruch reizen. Dann kann keiner später behaupten, du hättest sie weiter in diesen Krieg getrieben. Sie wollten es ja nicht anders.«
»Ah, jetzt verstehe ich. Diese List ist wahrhaft eines Odysseus würdig.«
»Gut, dann lass die Fürsten und Unterführer zum Grabhügel des Achilleus kommen und halte deine Ansprache.«
An die hundert mürrische Männer warteten gespannt, was Menelaos, König von Sparta, ihnen verkünden wollte. Schon bald nach dem Ruf der Herolde, sich zu versammeln, waren die Gerüchte schneller als ein Pfeil durchs Heerlager gefegt. Vor allem dem Fürsten von Ithaka, Odysseus, konnte man die Anspannung ansehen. Dann erklomm Menelaos ein Podest und wandte sich an die Achäer.
»Hört mich an, ihr Fürsten und Anführer! Mir blutet das Herz, wenn ich unsere Scharen so hinsinken sehe. Für meine Ehre ist die Elite der Achäer in den Kampf gezogen, und nun muss ich befürchten, dass am Ende keiner mehr die Heimat begrüßen wird. Solches kann ich nicht zulassen! Lasst uns deshalb diesen unheilvollen Strand verlassen und mit unserer Beute zurücksegeln, ein jeder in sein Vaterland. Seit Achilleus und Aias dahingeschieden sind, ist keine Hoffnung mehr auf den Sieg. Was mich betrifft, kümmert mich mein verräterisches Weib nicht mehr. Soll sie mit dem weibischen Paris das Lager teilen. Lasst uns aufbrechen und der blutgetränkten Troas den Rücken kehren!«
»Was ist nur in dich gefahren?«, rief Diomedes und riss sein Schwert aus der Scheide. »Hat dich die Krankheit der Feigheit befallen? Kein Achäer wird auch nur einen Fußbreit weichen, bevor nicht Troja gefallen ist! Dem Ersten, der dir folgt, werde ich persönlich das Haupt vom Rumpf schlagen!«
Nun war es an Kalchas, dem Seher, nach vorn zu treten. Mit beschwichtigenden Gesten versuchte er die aufgebrachten Krieger zu beruhigen.
»Hört auf mich, ihr tapferen Söhne Griechenlands! Ich weiß, wie wir Trojas Zinnen stürmen können. Erinnert euch des edlen Philoktetes, des Freundes des Herakles!«
Ein Raunen entstand unter den Fürsten. Einige hatten ihn gar schon vergessen. Auf ihrer Fahrt nach Troja war Philoktetes bei einem Jagdausflug auf einer kleinen Insel von einer giftigen Schlange gebissen worden. Seine Wunde hatte sogleich zu eitern begonnen und fürchterlich gestunken. Seine Schmerzensschreie waren für die anderen schier unerträglich gewesen. Deshalb hatte Odysseus den Unglücklichen auf der Insel Lemnos ausgesetzt und dessen sieben Schiffe samt seiner Männer kurzerhand dem Medon übergeben.
»Lebt Philoktetes denn überhaupt noch?«, fragte Aias, der andere, der noch nicht tot war, der Sohn des Oileus, Führer der Lokrer.
»Ja, er lebt noch!« Kalchas versuchte sich in dem Stimmengewirr Gehör zu verschaffen.
»Eine Vision hat mir verraten, dass wir Troja nur mit Pfeil und Bogen des Herakles besiegen können. Wie ihr wisst, oder wissen solltet, sind diese Waffen im Besitz von Philoktetes. Mein Rat ist daher, ohne Verzug den stärksten unserer Helden, Diomedes, und den beredtesten, Odysseus, auszuschicken. Sie sollen zuerst zur Insel Skyros segeln und den Sohn des Achilleus, den jungen Neoptolemos, dort abholen, um ihn unverzüglich hierherzubringen. Danach sollen Diomedes und Odysseus nach Lemnos fahren und den Philoktetes mit seinen Pfeilen holen. Nur gemeinsam wird es ihnen gelingen, Philoktetes zu überreden, sich uns wieder anzuschließen.«
»Aber der Kerl stinkt wie die Pest!«, rief einer der geringeren Fürsten.
»Machaon und Podaleirios, die Söhne des Asklepios, des göttlichen Heilers, der selbst Tote wieder zum Leben erwecken konnte, werden sich seiner annehmen«, versprach Kalchas.
»Sieg oder Untergang!«, brüllte Diomedes.
Und alle Achäer am Grabhügel des Achilleus stimmten ein: »Sieg oder Untergang!«
*
Raffim kaute seinen dritten Döner mit allem und scharf und schien rundum zufrieden. Mursil hatte ihm eine Einführung in die Handelssituation in der Troas gegeben. Der Händler beobachtete sein Gegenüber ganz genau, und auch der junge Metin, der wie immer den Fleischspieß drehte, entging ihm nicht. Ihm gefiel, dass der Knabe in Anwesenheit von Fremden ohne aufzusehen weiter arbeitete und schwieg.
Nun wusste Raffim, was in dieser Gegend lief und was nicht und in wen man sinnvollerweise Schmiergeld investieren musste. Trotz des Krieges gab es immer noch Möglichkeiten, das belagerte Troja aufzusuchen und dort Handel zu treiben.
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