Die Nomadengott-Saga 03 - Die Weltenbaumler
sie wäre eine Tochter des Urriesen Ymir. Eines aber war sie mit Sicherheit: das Weib des Loki und Mutter seiner Kinder, dem Fenriswolf, der Midgardschlange und der Hel. Und sie war das einzige Wesen im Universum, das den Trickstergott mochte.
Zu diesem seinem Weib begab sich nun Loki. Nur sie vermochte dem Bannfluch der Zwerge zu widerstehen und war in der Lage, ihm die Lederschnüre aus den Lippen zu ziehen.
Zaghaft klopfte Loki an die Tür der schäbigen Hütte.
»Komm herein, du Schuft!«, dröhnte es von drinnen.
Der Trickstergott betrat die Behausung, die prächtig eingerichtet war. Staunend sah sich Loki um. Seit seinem letzten Besuch hier hatte sich viel verändert, um nicht zu sagen, alles.
»Willst du mir nicht guten Tag sagen?«, höhnte Angrboda und sah grinsend auf den zugenähten Mund ihres Gatten. »Ein Anblick, auf den ich, wie viele andere auch, lange gewartet habe.«
»Mmmmpf, mmmgh.«
»Ja, danke, mir geht es gut.«
»Mmmnngh.«
»Nein, ich habe dich auch nicht vermisst.«
»Mmpf, mmmmpfgh.«
»Oh, du musst dich nicht entschuldigen, dass du dich hundert Jahre oder länger nicht hast blicken lassen. Ich wusste ja, dass du immer an mich denkst.«
»Mmpf.«
»Du musst schon wieder gehen? Wie schade!«
An dieser Stelle des etwas einseitigen Gesprächs schüttelte Loki heftig mit dem Kopf und warf sich seiner Gattin zu Füßen.
Angrboda brach in schallendes Gelächter aus.
»Wie lange habe ich darauf gewartet, dass du mich einmal brauchst, Loki! Der große Weltenversteher, der Puppenspieler, der immer alle Fäden in der Hand hält. Der Mann, der mich mit den schrecklichsten Kindern des Universums sitzen gelassen hat. Der größte Egoist aller Welten und Zeiten braucht mich, wie schön!«
Dann holte sie ein Messer und durchtrennte die Lederschnüre.
*
Seshmosis stand inmitten von mannsdicken Wurzeln, die sich aus der Erde zum Stamm hin wanden. Auf einer davon saß Ratatöskr. Der Schreiber hörte ein regelmäßiges, kräftiges Blasen.
»Ist das eine dieser heißen Quellen, dieser Geysire?«, fragte er.
»Ruhig«, flüsterte das Eichhörnchen. »Das ist der Atem von Nidhöggr, dem alten Drachen. Er darf nicht merken, dass wir hier sind.«
Leichtfüßig rannte Ratatöskr weiter, und Seshmosis bemühte sich, ihm möglichst geräuschlos zu folgen. An einem Brunnen hielt der Nagezahn an.
»Vorsichtig! Das ist der Mimirsbrunnen. Odin opferte ein Auge dafür, hineinblicken zu dürfen, um die Weisheit zu schauen, die darin verborgen liegt. Ich benutze das Wasser als Spiegel.«
»Soll ich's wagen?«
»Wenn du nur auf die Oberfläche siehst, ist es ungefährlich. Aber wehe, dein Blick dringt tiefer ein! Dann brauchst du wahrlich starke Runen, um das Gesehene zu ertragen.«
Seshmosis entschied, dass jetzt nicht der rechte Zeitpunkt für Grenzerfahrungen war. Er wollte lieber kein Auge riskieren und warf nur einen kurzen Blick auf den Wasserspiegel. Erschreckend genug, dass er immer noch wie ein graues Tier aussah.
Ratatöskr wühlte und scharrte inzwischen unter Laub und Wurzelwerk. Nach einer Weile wandte er sich wieder Seshmosis zu. Der Eichkater hielt vorsichtig einen goldenen Ring in der Pfote.
»Mein Abschiedsgeschenk für dich, Urahn!«
Gerührt nahm der Schreiber das Geschenk an.
»Ein wunderbarer Ring! Vielen Dank, mein lieber Ratatöskr.«
»Das kann man wohl sagen, denn er ist wahrlich wunderbar. Dies ist der Ring Draupnir, und er hat eine wechselvolle Geschichte. Aber seine wichtigste Eigenschaft ist, dass er sich jede neunte Nacht selbst verachtfacht. Damit sollte dein Einkommen und Auskommen für den Rest deines Lebens gesichert sein. Und wo du doch bald heiraten möchtest …«
»Jetzt erinnere ich mich! Brokk und Sindri haben mir von diesem Wunderwerk namens Draupnir erzählt. Ich wusste nicht, dass er in deinem Besitz ist.«
»Auch das ist eine lange Geschichte, mit der ich dich nicht langweilen möchte«, wich Ratatöskr aus. »Nimm ihn nur!«
»Aber solch ein Ring würde dir doch auch helfen …«, wandte Seshmosis ein.
»Bis vor kurzem dachte ich das auch. Aber was will ein Eichhörnchen schon mit Gold anfangen? Was ich zum Leben brauche, finde ich hier. Und wenn es ein bisschen mehr sein soll, habe ich meine Freunde. Nein, nein, Gold ist etwas für Menschen. Oder für Götter. Aber nicht für mich.«
Dankbar ließ Seshmosis den Ring in seinem Brustbeutel verschwinden.
Und Ratatöskr war froh, dass sein Urahn nicht weiter nach der wechselvollen
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