Die Nomadengott-Saga 03 - Die Weltenbaumler
Betrüger!«, zischte Brokk. »Ich hätte es wissen müssen, dass du wieder trickst. Aber diesmal entgehst du deiner Strafe nicht. Wenn wir dir nicht den Kopf abschlagen dürfen, so nähen wir dir wenigstens dein Schandmaul zu. Sindri, gib mir ein Messer und ein Schuhband! Ich werde ihm die Lippen durchstechen und seinen Lügenmund mit dem Lederband zunähen.«
Alle Proteste halfen nichts, die Zwerge verschlossen Lokis Mund. Gemeinsam sprachen sie einen Bannfluch über die Ledernaht, auf dass nur jenes Wesen diese zu lösen vermochte, das Loki aufrichtig gern hatte.
Doch damit nicht genug, brannten die Gestaltwandler dem Trickstergott auch noch ihr Zeichen in die Stirn, damit jeder sähe, dass dieser Kopf Brokk und Sindri gehörte. Dann ließen sie einen erstmals schweigenden Loki vom fliegenden, immer wieder attackierenden Schwert Grafvitnir aus ihrer Höhle jagen.
*
Seshmosis folgte den Anweisungen seines Herrn und schwang sich auf Sleipnirs Rücken. Der Hengst würde ihn nach Asgard tragen, hatte der kleine Gott versprochen. Allerdings vergaß er dabei zu erwähnen, dass der Weg dorthin über Bilfröst, die Regenbogenbrücke, führte. Wohlweislich hatte GON seinem Propheten auch verschwiegen, dass Bilfröst übersetzt »der schwankende Weg« bedeutete. Nun, auf halber Strecke zwischen Midgard und Asgard, auf einem orangefarbenen Fleck, hörte Seshmosis die vertraute Stimme in seinem Kopf: »Fürchte dich nicht!«
»Ich fürchte mich nicht, und ich habe auch keine Höhenangst. Ich habe lediglich Angst davor, in die Tiefe zu stürzen.«
Doch das achtbeinige Pferd brachte Seshmosis sicher nach Asgard an den Fuß der Weltenesche. Neugierig blickte sich der Prophet um, und da sah er es:
Das berühmte Walhall. Ihm war klar, dass nur wenige Touristen diesen Anblick zu sehen bekamen. Vor allem keine lebendigen.
Die Schilde auf dem Dach glänzten prächtig, und auf der Wiese davor übten die toten Krieger heftig für die letzte Schlacht gegen Loki und seine Brut. Denen wollte Seshmosis lieber nicht zu nahe kommen.
Er blickte suchend am Stamm der Weltenesche empor, um seinen Nachkommen zu entdecken. Doch statt des kleinen Eichhörnchens erblickte er die vier mächtigen Hirsche der Zeit, Dain, Dwalin, Duneyr und Dyrathor. Wie immer ästen sie, jeder das Seine fressend und dadurch Stunden und Tage und Jahre und Zeitalter schaffend. Fasziniert beobachtete Seshmosis die majestätischen Geweihträger, als etwas an seiner Seite emporrannte. Auf seiner Schulter stand das rotbraune Eichhörnchen, das sein Nachkomme war und das er retten sollte.
»Komm mit mir nach Midgard! Mein Herr und Gott sieht eine Möglichkeit, dir deine menschliche Existenz zurückzugeben.«
»Nach Midgard will ich wohl kommen, aber warum sollte ich wieder ein Mensch werden?«
»Ja, bist du denn nicht unglücklich? Also wenn ich so ein verwandelter Winzling in Asgard wäre, gefiele mir das sicher nicht.«
»Wenn ich aber ein bedeutender Winzling bin, Herr Vorfahre? Wenn mir aber mein Leben als Winzling gefällt, weil ich Freunde habe? Und wenn ich respektiert werde wie niemals in meinem menschlichen Leben zuvor? Ich will Eichhörnchen bleiben und zusammen mit meinen Freunden, den mythischen Tieren leben.«
»Du vermisst dein Menschsein gar nicht?«
»Nein. Ich war kein guter Mensch. Ich habe gestohlen und betrogen und war kein Deut besser als Loki. Nur nicht so mächtig.«
»Aber empfindest du es denn nicht als Strafe, so zu leben?«, fragte Seshmosis immer noch verständnislos.
»Strafe? Mein lieber Ahnherr, ich ziehe die relative Unsterblichkeit als Eichkater der Endlichkeit eines Lebens als menschlicher Mann vor.«
»Aber wenn du ein Eichhörnchen bleibst, stirbt unsere Linie aus. Du bist doch mein allerletzter Nachkomme! Könntest du nicht …«
»Sehe ich etwa aus wie ein Zuchtbulle?«, empörte sich Ratatöskr. »Es ist doch an dir, für mehr als einen einzigen Nachkommen zu sorgen, auf der Erde oder in Midgard oder wie immer du das nennst, wo du lebst. Findest du denn keine Frau, die Kinder von dir und mit dir haben möchte?«
Seshmosis fiel es wie Schuppen von den Augen, und er flüsterte. »Tani.«
»Wusste ich's doch!«, rief Ratatöskr. »Es gibt noch eine andere Lösung. Und jetzt komm mit, ich habe ein Geschenk für dich!«
*
In Utgard, an der Grenze von Nebelheim zu Feuerheim, hauste die Riesin Angrboda, die »Unheilstifterin«. Man sagte, sie sei älter als die Wanen und Asen, und manche behaupteten gar,
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