Die Nonne und der Tod
sie oft stumm auf der Küchenbank und hörte uns zu. Allein ließ sie uns nie. Auch das war eine Abmachung, die sie und Richard getroffen hatten.
Jeden Morgen nach Sonnenaufgang kam Richard zu uns, und er blieb, bis es zu dunkel wurde, um die Schrift auf der Tafel zu lesen. Ich war froh, dass die Tage allmählich wieder länger wurden, denn mit jedem neuen konnte er ein kleines bisschen länger bleiben.
»Hast du dir die Wörter gemerkt, die du gestern gelernt hast?«
Ich nickte, warf aber aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Tafel.
Mutter bemerkte es, drehte sie herum und hielt mir vor: »Du betrügst dich nur selbst!«
Langsam und stockend begann ich die fremden Wörter auszusprechen. »Tisch«, sagte ich auf Latein, dann »Eimer, Hügel, Wein.«
»Sehr gut.« Richard schob mir die Tafel zu. Ich wischte sie mit dem Hemdsärmel sauber.
»Schreibe mir den Satz auf: ›Ich setze mich an einen Tisch und trinke Wein.‹«
Ich nahm das Kreidestück, beugte mich vor und begann zu schreiben. Es war ein einfacher Satz, über den ich nicht lange nachdenken musste. Ich drehte die Tafel um und zeigte sie Richard.
»Fehlerfrei. Gut.«
Obwohl der Unterricht bereits seit Wochen stattfand, verwirrte es mich immer noch, gelobt und nicht bestraft zu werden. Richard benutzte keinen Stock, er sah mir nicht über die Schulter, und er roch nicht nach altem Schweiß und Weihrauch. Ich sagte mir stets, dass ich mich deswegen so auf seinen Besuch freute.
»Und jetzt schreibe: ›Ich steige auf einen Hügel und sehe auf das Meer hinaus.‹« Er stand auf, ging zur Feuerstelle und wärmte sich die Hände. Ich ahnte, dass er auf etwas wartete, auf den Beginn des zweiten Spiels, das wir wenige Tage zuvor direkt unter Mutters Nase zu spielen begonnen hatten.
Ich schrieb ein paar Wörter auf. »Fertig.«
»Lies es mir vor.«
»Darf ich dich etwas fragen?«, sagte ich auf Latein.
Er drehte mir den Rücken zu, aber ich konnte mir sein Lächeln vorstellen.
»Frag«, forderte er mich ebenfalls auf Latein auf.
Ich suchte nach den richtigen Worten. »Was sind das für Zeichen in deinem Gesicht?«
Seit unserer ersten Begegnung hatte ich ihn nach den Tätowierungen fragen wollen, war jedoch immer davor zurückgeschreckt. Doch an diesem Morgen fühlte ich mich selbstsicher und erwachsen genug, um die Frage zu stellen.
Er schwieg einen Moment. Das Feuer im Kamin knackte, der Wind bewegte den Vorhang vor dem Fenster. Ich dachte bereits, er wollte nicht antworten, doch dann sagte er etwas, das er zweimal wiederholen musste, bevor ich es verstand.
»Ich werde es dir erklären, wenn du genug Latein gelernt hast, um es zu verstehen.« Richard kehrte zurück an den Tisch, setzte sich und sagte auf Deutsch: »Das ist noch zu schwer für dich. Wir machen besser mit neuen Wörtern weiter.«
Sein Blick zuckte zu Mutter und wieder zurück zu mir. Wir müssen vorsichtig sein , schien er sagen zu wollen, und damit hatte er recht.
Mutter verstand zwar nicht, was wir sagten oder schrieben, aber sie war eine kluge Frau und so bedacht auf meinen Ruf, dass sie den Unterricht abgebrochen hätte, hätte sie geahnt, was wir taten – oder was im Dorf geredet wurde.
Den Rest des Tages verbrachten wir mit Wörtern wie Löffel und Stuhl, Messer und Schiff. Wir wiederholten, was ich in den letzten Tagen gelernt hatte und was an diesem Tag neu hinzugekommen war. Mutter nickte immer wieder ein, aber wir wagten es trotzdem nicht noch einmal, über andere Dinge zu sprechen.
Schließlich richtete sie sich auf, schob den Vorhang zur Seite und sah hinaus. »Es ist schon fast dunkel«, sagte sie. »Ich denke, es reicht für heute. Ketlin muss noch die Ziegen füttern.«
Richard erhob sich sofort, so wie ein Dienstbote, der von seiner Herrin fortgeschickt wurde. »Ich habe die Zeit vergessen, Magda, entschuldige.«
»Nein, ich bin ja froh über den Unterricht. Möchtest du das Nachtmahl mit uns teilen?«
»Verzeiht bitte, aber meine Freunde erwarten mich zum Essen. Es wäre unhöflich, sie zu enttäuschen.«
Ich konnte sehen, dass Mutter über seine Antwort sehr erleichtert war. Sie lächelte und deutete einen Knicks an. »Dann erwarten wir dich morgen früh zu gewohnter Stunde.«
Noch nie hatte ich sie mit jemandem so reden hören. Die Verbissenheit, mit der sie sonst unser Leben regelte, verschwand, wenn Richard mit ihr sprach. Für ihn war es eine Rolle, das wusste ich, aber was es für sie war, verschloss sich mir.
»Natürlich. Ich wünsche euch
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