Die Nonne und der Tod
sehen, was sich darin befand. Das war so etwas wie Mutters erstes Gebot.
Ich drehte mich um und reichte Richard die Kerze. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen.
»Wir müssen zurück«, sagte ich.
»Ja.«
Doch als wir das Haus wieder verließen und ich die Tür schloss, blieb er stehen. »Du hast mir so viele Fragen gestellt, dass ich gern auch etwas über dich erfahren würde.«
»Was gibt es über mich schon zu erzählen?« Ich ging ein wenig schneller, zwang ihn zu mir aufzuschließen.
»Ich weiß es nicht, deshalb möchte ich ja fragen. Ist dir das recht?«
Es wäre feige gewesen abzulehnen, und unhöflich, denn ich hatte ihn wirklich sehr viel gefragt. »Was möchtest du wissen?«
Wir gingen wieder nebeneinander. Ich spürte, wie er mich musterte.
»Dein Vater«, sagte er. »Er ist nicht tot, oder?«
Die Frage traf mich unerwartet. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich nach unserem Wohlstand fragen würde oder nach Mutters Plänen für mich, nicht damit.
Er schien mein Unwohlsein zu spüren. »Wenn du nicht darüber reden möchtest …«
»Doch, das will ich.« Ich wollte nicht, nahm aber an, dass Richard das meiste ohnehin schon wusste beziehungsweise gehört hatte, was man im Dorf für Wissen hielt.
»Mein Vater ist ein wohlhabender Mann, der meine Mutter aus Standesgründen nicht ehelichen kann, uns aber seit meiner Geburt unterstützt, so wie es sich für einen Christen gehört.«
Schon vor langer Zeit hatte ich mir die Worte zurechtgelegt und sie auswendig gelernt für den Fall, dass sie eines Tages nötig wurden. Ich wollte in meinen Erklärungen nicht ins Stocken geraten, als wäre meine Geburt eine Schande.
Richard lachte. »Du musst dich deswegen nicht verteidigen. Die Hälfte meiner Truppe hat keine Ahnung, wer sie gezeugt hat.«
Bilder von betrunkenen Huren, die an Gelagen teilnahmen, stiegen in mir empor. Hastig schüttelte ich den Kopf. »Nein, bei mir ist das anders. Er …«
Ich unterbrach mich, denn wir hatten Jupps Hütte erreicht. Der Wind hatte nachgelassen, trotzdem musste ich meinen Umhang wie eine Glocke um Richard legen, damit er die Kerze mit seinem Zunderpäckchen anzünden konnte. Ich kam ihm so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spürte.
»Lass das nicht deine Mutter sehen«, sagte Richard leise. Ich hätte beinahe gelacht, fürchtete aber, dass man es im Inneren der Hütte hören würde. Mit meinem Umhang schützte ich die flackernde kleine Flamme der Kerze, während Richard die Tür öffnete und mich eintreten ließ.
Dieses Mal war ich auf den Gestank vorbereitet, und so traf er mich nicht mehr ganz so hart. Im Kerzenlicht sah ich Anne und meine Mutter. Sie hockten an der Rückwand der Hütte neben Jupp, der in seinen Umhang eingehüllt war und am Boden lag. Der ganze Raum war voller Stroh. In einer Ecke stand eine Ziege, Hühner liefen zwischen schlafenden Kindern umher. Ich sah kein einziges Möbelstück, nur einen großen Holznapf und einen Löffel.
»Bring mir die Kerze«, sagte Mutter.
Richard zog die Tür hinter sich zu, folgte mir jedoch nicht weiter in den Raum, sondern blieb an der Wand stehen. Ich trug die Kerze zu dem aufgehäuften Stroh. Als ihr Licht Jupp erreichte, erschrak ich. Sein Gesicht war bleich, die Wangen eingefallen. Seine Lippen bewegten sich unablässig, so als würde er mit jemandem reden, aber ich hörte keinen Laut.
Mutter betrachtete ihn, dann wandte sie sich an Anne. »Wie lange geht das schon so?«
»Es hat vorgestern angefangen.« Tränen liefen über Annes Wangen, sammelten sich am Kinn und tropften auf den Boden. Mit dem Handrücken wischte sie sich übers Gesicht. »Er fühlte sich schwach, wollte aber nicht zu dir gehen, weil du doch schon so viel für ihn tust.«
Ich ging neben Jupp auf die Knie, wischte Stroh beiseite, bis ich den Lehmboden darunter sah, und stellte die Kerze ab. Sie flackerte, aber ich konnte die Hände wegnehmen, ohne dass sie ausgeblasen wurde. Es war kalt und zugig in der kleinen Hütte.
»Er hat hohes Fieber.« Mutter ging nicht auf das ein, was Anne gesagt hatte. Sie beugte sich vor und tastete Jupps Gesicht und Hals ab. Er stöhnte und warf den Kopf von einer Seite zur anderen. »Da ist eine Beule unter seinem Ohr. Hat er sich verletzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Anne. Ich hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme. »Kannst du ihm helfen?«
Mutter schwieg. Hinter mir raschelte Stroh. Ich drehte mich um und sah, dass Richard die zwei Schritte zur Tür zurückgegangen war.
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