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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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dass ihn hohe Gerüste umgaben und stützten. Arbeiter sah ich keine.
    »Wieso bauen sie nicht daran?«, fragte ich.
    Dorlein bekreuzigte sich neben dem Karren. »Es heißt, dass die Welt untergeht, sobald er fertig ist. Sie haben Angst weiterzubauen.«
    »So ein Quatsch!« Fritz drehte sich zu ihr um. »Die Schatzkammern sind leer, deshalb bauen sie nicht weiter.«
    Dorlein hob die Schultern. »Glaub doch, was du willst.« Sie wirkte beleidigt.
    Der Markt wurde auf dem großen Platz vor dem Dom abgehalten. Wir erreichten ihn so früh, dass wir noch einen guten Platz fanden, direkt neben den festen Ständen der Händler, die das ganze Jahr über ihre Waren verkauften. Fritz und Dorlein hievten die Fässer von der Ladefläche. Ich wollte Gertrudt beim Auslegen der anderen Waren helfen, aber sie wies mich ab.
    »Geh und such deinen Onkel«, sagte sie, und die Freundlichkeit war in ihre Stimme zurückgekehrt. »Deswegen bist du schließlich hier, nicht um unseren Stand aufzubauen.«
    Ich umarmte sie, dann Dorlein; Fritz gab ich die Hand. Wir verabschiedeten uns, aber bevor ich sie zurückließ, drehte ich mich noch einmal um. »Wisst ihr, wo das Rathaus ist? Mein Onkel lebt ganz in der Nähe.«
    Fritz beschrieb mir den Weg. Ich ging an den Ständen und dem halben Dom vorbei auf die schmalen Gassen zu, aus denen ganz Coellen zu bestehen schien. Händler priesen reichen Damen in fellbesetzten Umhängen und mit hochgeschlagenen Kapuzen ihre Waren an, zeigten auf Stoffbahnen, Kerzenleuchter und fein geschnitzte Stühle. Bauern und Pilger bewunderten die Auslagen der Geschäfte mit großen Augen, Bettelmönche in braunen Kutten und Sandalen zogen singend dahin. Zwischen ihnen drängten sich Soldaten, Arbeiter, die Karren vor sich herschoben, spielende Kinder und Bettler. Nonnen eilten wie schwarze Schatten an ihnen vorbei. Der Rauch von tausend Feuern hing über den engen Gassen und verdunkelte die Sonne.
    Mein Herz schlug schneller, als ich die Fahnen der Stadt Coellen über den eng beisammen stehenden, schrägen Häusern mit ihren winzig kleinen Fenstern wehen sah. Eine letzte Kurve, dann stand ich auf einem großen gepflasterten Platz. An seinem Ende erhob sich das Rathaus, ein zweistöckiger, breiter Koloss aus Säulen und runden Steinbögen, unter denen man ganze Häuser hätte errichten können. Bis heute glaube ich, dass jenes Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, komplett darunter Platz gefunden hätte.
    Langsam ging ich über den Platz. Eis, das Asche und Ruß grau gefärbt hatten, knirschte unter meinen Füßen. Auf den drei Stufen, die zum Rathaus führten, standen Soldaten Wache. Eine zweite Gruppe verscheuchte zerlumpte Kinder, die versuchten, bei einigen offiziell aussehenden Männern zu betteln. Ich versuchte einen Blick auf die Gesichter der Männer zu werfen, doch die waren unter den tief sitzenden Fellmützen kaum auszumachen. War einer von ihnen vielleicht mein Vater? Hatte ich ihn womöglich schon gefunden?
    Nach kurzem Zögern ging ich auf die Männer zu, und mit einer Hand tastete ich zum wohl hundertsten Mal nach dem Brief in meinem Hemd. Er steckte immer noch dort. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie einer der Soldaten zwei Kameraden anstieß und auf mich zeigte. Mit langen, entschlossenen Schritten gingen sie mir entgegen.
    Ich ging schneller, versuchte so nahe wie möglich an die Männer heranzukommen, bevor man mich aufhalten würde. Sie unterhielten sich angeregt und gestikulierend, bemerkten mich nicht.
    Die beiden Soldaten stellten sich mir in den Weg. »Deine Dienste will hier keiner, Schwester«, sagte der größere von beiden. »Hau ab.«
    Ich errötete, als mir klar wurde, worauf er anspielte. »Ich muss Bürgermeister Wilbolt sprechen.«
    »Nein, musst du nicht. Verschwinde.«
    »Es ist wichtig.« Ich sah zwischen den Schultern der Soldaten hindurch, versuchte den Blick eines der Männer zu erhaschen. »Bürgermeister Wilbolt!« Ich rief seinen Namen. »Er kennt mich, also, er kennt meine Mutter und …«
    Der Soldat legte seinen Speer quer und schob mich damit zurück. Ich rutschte über das Eis. »Hör auf!«, schrie ich. »Lass mich durch!«
    Die Männer unterbrachen ihr Gespräch. Einer drehte sich um. »Was ist denn los?«
    »Irgendeine Verrückte, Herr.« Der zweite Soldat breitete die Arme aus, damit ich nicht an ihm vorbeilaufen konnte. »Sie …«
    »Ich muss Bürgermeister Wilbolt sprechen!«, unterbrach ich ihn. »Es ist dringend.«
    Die anderen Männer verdrehten die Augen, aber der,

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