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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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der die Soldaten angesprochen hatte, kam näher. Er war zu jung, um mein Vater zu sein. »Und was willst du von ihm?«
    »Ich …« Beinahe hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, doch im letzten Moment besann ich mich. »Das kann ich nur ihm erklären, Herr.«
    Der Mann hob die Augenbrauen. »Dann hast du Pech. Er ist nicht hier, und dein Geschrei wird ihn auch nicht herbringen.«
    Mit einem letzten, fast schon mitleidigen Blick ließ er mich stehen und kehrte zu den anderen Männern zurück.
    »Wann kommt er wieder?«, rief ich hinter ihm her, aber er beachtete mich nicht weiter.
    Der größere Soldat ließ seinen Speer sinken, der andere die Arme.
    »Du verschwindest jetzt besser, sonst landest du im Kerker«, sagte der kleinere.
    »Aber ich muss ihn wirklich dringend sehen.«
    »Dann komm nächsten Dienstag wieder, wenn der Rat tagt. Vielleicht hast du dann mehr Glück.«
    Der größere Soldat schüttelte den Kopf, als wäre er nicht damit einverstanden, dass sein Kamerad mir einen solchen Rat gab.
    »Nächsten Dienstag?« Mein Mund wurde trocken. »Was soll ich denn bis dahin machen?«
    »Was weiß ich. Geh jetzt.«
    Ich drehte mich um. Wie eine alte, gebrochene Frau muss ich ausgesehen haben, als ich mit gesenktem Kopf über den Platz ging und in die Gasse einbog, aus der ich gekommen war.
    Zuvor hatte ich die Auslagen dort bestaunt und bewundert, doch nun erinnerten sie mich nur an all das, was ich nicht kaufen konnte.
    Ein Dreiviertelpfennig, das war alles, was ich hatte, eine lächerliche Summe, wenn man fast eine Woche in der teuren Stadt verbringen muss.
    Der Platz blieb hinter mir zurück. Ich hob meinen Rock an und sprang über eine schmale Rinne, in der Fäkalien dampften. Eine Ratte, halb verborgen im grauen Schnee, quiekte und sah mir nach.
    Ich ging tiefer in die Gassen hinein, ohne zu wissen, wohin sie mich führten. Die Menschen, die ich traf, beachteten mich kaum, drängten sich nur eilig an mir vorbei, beladen mit Waren und mit einem Ziel, das ich nicht kannte. Ich beneidete jeden Einzelnen von ihnen. Sie wussten, wer sie waren und wohin sie gingen. Alle waren jemand, eine Mutter, eine Tochter, ein Bettler am Ende seines Lebens, ein Wachmann, der seinem Herrn diente. Irgendwo in dieser großen, kalten Stadt wartete jemand auf sie, kannte ihren Namen, liebte oder hasste sie. Meinen Namen kannte keiner, ich war allein.
    Eine Schulter traf meinen Rücken und ließ mich stolpern. Ein Mann mit einem Bündel Stroh auf dem Rücken fluchte.
    »Steh hier nicht im Weg rum, Mädchen«, sagte er nicht halb so unfreundlich, wie ich erwartet hatte. »Hast du kein Zuhause?«
    Nein, wollte ich ihn anschreien, aber im gleichen Moment schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Wieso war er mir vorhin nicht gekommen? Nicht alle Menschen lebten und arbeiteten am selben Ort.
    »Ich suche jemanden«, sagte ich zu dem Mann, der sich bereits wieder umgedreht hatte und seinen Korb zurechtrückte. Das Stroh hing ihm so tief ins Gesicht, dass er mich nicht gesehen hatte.
    »Wen denn?«, fragte er hinter der Wand aus Stroh.
    »Bürgermeister Wilbolt. Weißt du, wo er wohnt?«
    Der Mann nieste und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes durchs Gesicht. »Hier bestimmt nicht.« Seine Geste umfasste die niedrigen, einfachen Häuser und die Menschen, die an ihnen vorbeigingen. »Geh in Richtung Dom und frag da noch mal. Irgendwer wird’s schon wissen.«
    Ich bedankte mich bei ihm und ging zurück durch die Gassen, der unfertigen, turmlosen Kirche entgegen. Sie war leicht zu finden, denn die meisten Händler waren auf dem Weg dorthin, beladen mit Waren, die sie auf dem großen Platz vor dem Eingang verkaufen wollten. Einige hielt ich an und fragte sie nach dem Haus von Bürgermeister Wilbolt, und einer konnte mir schließlich helfen und schickte mich in ein Viertel hinter dem Dom.
    Die Häuser, die dort die Gassen säumten, waren zweistöckig, mit spitzen Dächern, dunklen Balken und dicken Mauern aus Stein. Soldaten patrouillierten und jagten die Bettler davon, die sich in den Hauseingängen versteckten. Sie waren nicht erwünscht. Mich musterten sie ebenfalls, doch keiner sprach mich an. Ich senkte den Blick, um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, und suchte aus den Augenwinkeln nach dem richtigen Haus.
    Ich fand es am Ende einer langen, gewundenen Gasse. Es unterschied sich in nichts von den anderen Häusern in seiner Nähe. Es wehten keine Banner von den kleinen Ziertürmen, die das Dach einrahmten, noch standen Soldaten vor der

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