Die Nonne und der Tod
das Gasthaus.
Frische kalte Luft vertrieb den Schlaf aus meinen Gedanken. In den Gassen war kaum jemand zu sehen. Nur einige Soldaten begegneten mir und ein Schmied mit einer Schubkarre voller Werkzeug. Ich fragte ihn nach dem Weg zum Kloster. Seine Antwort war wortreich und freundlich.
Trotz seiner Anweisungen verlief ich mich zweimal, bis ich schließlich am Ende einer langen, geraden Gasse die Mauern des Klosters sah. Sie waren moosbewachsen und hoch, fast so hoch wie die Stadtmauern, aber es fehlten die Türme und Wehrgänge. Dass Gebäude dahinter lagen, konnte ich nur erahnen, zu sehen waren sie nicht.
Erstes graues Licht kroch über den Horizont, doch die Sonne war noch nicht aufgegangen, und so wandte ich mich von dem großen geschlossenen Holztor des Klosters ab und ging an der Mauer entlang. Nach hundert Schritten hörte ich auf zu zählen. Das Kloster musste sehr groß sein, reichte vielleicht sogar bis zu der Stadtmauer am Westrand der Stadt.
Nach einer Weile gestand ich mir ein, dass ich das Unvermeidliche nur hinauszögerte. Entschlossen drehte ich mich um und ging zurück zum Tor. Was auch immer mich dahinter erwartete, ich würde mich ihm stellen und Bürgermeister Wilbolt beweisen, dass man sich auf mich verlassen konnte.
Ich nahm den schweren, kalten Eisenring in die Hand, klopfte an – und erschrak, als der Ring so laut auf seine Halterung schlug, dass ich glaubte, die ganze Stadt müsse davon erwachen. Hinter den Klostermauern blieb es jedoch still.
Ich zählte bis fünfzig, bevor ich es wagte, ein zweites Mal zu klopfen, und dann klopfte ich noch ein drittes Mal. Aber erst, als ich den Ring danach noch mal in die Hand nahm, hörte ich, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Ein vergittertes Fenster wurde geöffnet, und dahinter sah ich das Gesicht einer dürren, blassen Nonne. Ihre Wangenknochen stachen hervor, tiefe Falten rahmten eingefallene, schmale Lippen ein.
»Wer stört in der Stunde unseres Gebets?«, fragte sie. Ihre Stimme klang jünger, als ihr Gesicht aussah.
Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht … Ich komme gern später wieder, wenn die Stunde angemessener ist.«
»Was willst du?«
»Ich möchte zu Schwester Maria. Mein Name ist Ketlin. Ich glaube, sie erwartet mich.«
»Schwester Maria?« Der Blick, mit dem mich die Nonne musterte, erinnerte mich an den des Wirts. Ich wusste nicht, warum sie mich so ansah. »Warte hier.«
Sie schloss das Fenster und verriegelte es, so als würde sie befürchten, ich könne mich durch die Gitterstäbe ins Innere des Klosters zwängen. Ich lehnte mich an die Mauer und wartete, während die Stadt, deren Hütten und Gassen einen respektvollen Abstand zum Kloster hielten, langsam erwachte. Der Wind wehte den Geruch frisch gebackenen Brotes zu mir. Ich hätte hungrig sein müssen, aber in meinem Magen schien ein heißer, schwerer Klumpen zu liegen, der sich mit jedem Lidschlag unangenehmer anfühlte.
Ich zuckte zusammen, als die Geräusche auf der anderen Seite des Tores zurückkehrten. Dieses Mal wurden gleich mehrere Riegel bewegt, dann öffnete sich eine schmale Tür. Die dürre Nonne dahinter winkte mich hinein. »Komm. Schwester Maria wird dich empfangen.«
Ich ging durch die Tür und betrat einen Innenhof, dessen vier Seiten von einem Kreuzgang umgeben waren. Darüber erhob sich hufeisenförmig und zwei Stockwerke hoch das Klostergebäude. Links von mir stand eine kleine Kapelle mit einem spitzen Glockenturm. Alles wirkte beengt und nicht annähernd so groß, wie die Mauern von außen hatten vermuten lassen.
Die Nonne ging vor mir über den Innenhof, erwartete wohl, dass ich ihr folgte. Sie hatte ein steifes Bein, das sie bei jedem Schritt schwerfällig hinter sich herzog. Eis knirschte unter unseren Sohlen. Wir erreichten den Kreuzgang und traten durch eine Tür in das Innere des Klostergebäudes. Außer unseren von den schmucklosen Mauersteinen widerhallenden Schritten hörte ich keinen Laut.
»Wo sind denn alle?«, fragte ich, um die Stille zu füllen.
Die Nonne drehte sich zu mir um. Die Falten in ihrem Gesicht wirkten tiefer als zuvor. Das Gehen bereitete ihr Schmerzen. »Die Chornonnen sind in der Kapelle und preisen unseren Herrn, die anderen, denen es nicht vergönnt ist, daran teilzuhaben, gehen ihrer Arbeit nach.« Ihr kalter Blick traf mich. »Schweigend.«
Ich senkte den Kopf und folgte ihr durch die Gänge, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Schließlich blieben wir vor
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