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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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zusammengelegten Handflächen starrte ich die Wand an, während ich im Nebenraum das Singen der Nonnen hörte. Ich versuchte mir vorzustellen, ich wäre eine von ihnen, hätte den Ruf Christi vernommen und würde mein Leben in seinem Dienst verbringen. Wäre das wirklich so schlimm?
    Wenn ich es nicht tat, wenn ich diesen Ort verließ und in die weltliche Stadt zurückkehrte, was wäre dann? Allein, ohne Familie, ohne Vermögen, ohne einen Mann an meiner Seite würde ich wohl schon bald zu der werden, die der Wirt in mir gesehen hatte. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken.
    Nach einer Weile begannen meine Knie zu schmerzen, dann auch mein Rücken. Ich sah mich um, fühlte mich beobachtet, obwohl niemand außer mir und der Mutter Gottes im Raum war. Ich bat sie stumm um Vergebung, nahm das Schaffell, legte es vor einer Wand auf den Boden und setzte mich darauf. Die Beine streckte ich aus und seufzte vor Erleichterung.
    Und dann erlaubte ich meinen Gedanken, zu Mutter zurückzukehren. Ich wusste, was sie für mich gewollt hätte, die Erfüllung ihres verrückten, stolzen Traums. Doch das würde nicht geschehen. Niemals.
    Wieso hast du mich nur so belogen?, fragte ich ihr Abbild in meinem Geist. Und woher hattest du das Geld, um diese Lüge all die Zeit aufrechtzuerhalten?
    Doch Mutter schwieg und verschwand im Qualm der brennenden Hütte.
    Ich hörte Schritte auf dem Eis vor der Tür knirschen. Erschrocken sprang ich auf. Mit dem Fuß stieß ich das Schaffell von der Wand weg. Es rutschte über den Boden und blieb ungefähr an der Stelle liegen, von der ich es genommen hatte.
    Die Tür wurde aufgezogen. Schwester Maria sah zuerst mich an, dann den unberührten Altar, dann das schräg liegende Schaffell und schließlich wieder mich.
    »Hast du dein Gebet schon beendet?«, fragte sie.
    Ich nickte.
    »Konnte die Heilige Mutter dir den Weg weisen?«
    Wieder nickte ich.
    »Und was hast du beschlossen?«
    Ich glaubte, so etwas wie Nervosität in Schwester Marias Stimme zu hören. Die Mitgift musste wirklich großzügig sein.
    »Dass ich hierbleiben und auf den Ruf warten werde«, sagte ich zu ihrer sichtbaren Erleichterung. »Wenn Eure Gemeinschaft mich aufnehmen möchte.«
    »Die ehrwürdige Mutter überlässt mir in solchen Dingen die Entscheidung, und mein Gefühl sagt mir, dass du eine Bereicherung für unseren Orden sein wirst. Komm.« Sie streckte einladend den Arm aus. »Die anderen nehmen gleich ihr Abendessen im Refektorium ein. Dort kannst du alle kennenlernen. Und morgen beginnen wir dann mit den Gelübden.«
    Ich folgte Schwester Maria durch den Innenhof zurück ins Hauptgebäude. Eine merkwürdige Ruhe überkam mich, während mich die Mauern umgaben, die mich von nun an von der Welt trennen würden. Keine Unsicherheit mehr, keine Entscheidungen, nur Gehorsam und Demut vor dem Herrn. Vielleicht hatte Gott mir einfach nur seine Prüfungen auferlegt, damit ich schließlich zu diesem Ort gelangen konnte, um seinen Willen zu erfüllen. Vielleicht war ich zuhause angekommen.
    Schwester Maria öffnete die Tür zum Refektorium. Ich hörte das Schaben von Holz und das Rascheln von Stoff, als ich eintrat. Nonnen in dunklen Trachten saßen dicht gedrängt auf den Holzbänken und aßen Suppe aus großen hölzernen Töpfen, immer sechs um einen Topf. Ich sah viele junge Frauen, einige alte und ein paar, deren Alter sich im Halbdunkel des Saals nicht schätzen ließ. Der Schatten des gewaltigen Kreuzes fiel über ihre Gesichter, geformt vom letzten Licht des vergehenden Tages. Die Kerzenständer, die auf einigen Tischen standen, waren leer.
    Die Nonnen sahen auf, als Schwester Maria und ich eintraten, aber keine sagte etwas. Mein Blick glitt nach oben zu dem Podest mit seinem einen, quer zum Saal stehenden Tisch. Kerzen brannten darauf, und in ihrem Schein sah ich fünf Nonnen sitzen, von denen die in der Mitte alt, dick und halslos war wie eine Kröte. Aus kleinen Augen, die hinter den Fettwulsten ihrer Wangen fast verschwanden, starrte sie mich an.
    »Ehrwürdige Mutter Immaculata«, sprach Schwester Maria sie an. »Das ist Ketlin. Sie wird morgen ihr Novizinnengelübde ablegen.«
    Die alte Nonne musterte mich schweigend, bis ich den Blick senkte, dann widmete sie sich wieder ihrer Suppe. Die Nonnen, die neben ihr saßen, beachteten mich nicht, schlürften und schmatzten nur mit gesenkten Köpfen. Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen.
    Schwester Maria ging zu einer großen Truhe an der Wand, öffnete den Deckel und

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