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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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einer breiten doppelflügeligen Tür stehen. Die Nonne zog eine Seite auf, sah in den Saal, der dahinter lag, und sagte: »Das Mädchen.«
    Dann trat sie zur Seite und ließ mich eintreten.
    Es war ein Refektorium. Holzbänke standen an langen leeren Tischen, die auf eine Art Bühne zu zeigen schienen. Auf der stand nur ein einzelner Tisch mit sechs hochlehnigen, gepolsterten Stühlen, und darüber hing ein Kreuz, gehalten von schweren Eisenketten, die zu Ringen in den Wänden führten. Das Kreuz war doppelt so groß wie ich, wenn nicht noch größer. Der hölzerne Christus, dem Nägel durch Hände und Füße geschlagen waren, trug eine Dornenkrone. Er war noch nicht ganz fertig. Seine Arme und Beine waren bereits bemalt, doch sein Kopf war dunkel und konturlos, und aus leeren hölzernen Augen blickte er auf den Saal hinab. Die Fenster knapp unter der Decke rissen ihn aus dem Schatten, während alles andere im Halbdunkel blieb.
    »Er ist beeindruckend, oder?«, fragte eine helle Stimme.
    Ich drehte den Kopf und sah eine Nonne in dunkler Tracht und eng anliegender Gugel. Sie saß auf einer der Holzbänke, die Hände im Schoß gefaltet, und betrachtete den halb bemalten Christus. Sie konnte nicht viel älter sein als ich, ihr Gesicht war faltenlos, die Augen groß und rund und freundlich blickend.
    »Ja«, sagte ich, »das ist er.«
    »Er wacht seit einem Jahr über uns. Wir lassen daran arbeiten, wann immer wir etwas Geld übrig haben, was leider nicht sehr oft ist.«
    Schwester Maria stand auf. Der hölzerne Rosenkranz, der von dem Gürtel an ihrer Hüfte hing, schwang hin und her, als sie auf mich zuging. Sie war kleiner als ich.
    »Aber nun zu dir«, sagte sie. »Dein Name ist Ketlin.«
    Es war keine Frage, aber ich nickte trotzdem. Ich war nervös und wusste nicht, wohin mit meinen Händen. Mal faltete ich sie hinter dem Rücken, mal vor dem Bauch.
    »Bürgermeister Wilbolt scheint großen Anteil an deinem Schicksal zu nehmen. Warum das so ist, weiß ich nicht.« Ich öffnete den Mund, aber Schwester Maria hob die Hand. »Und ich will es auch nicht wissen. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Mädchen wie du vor mir steht, das von einem hohen Herrn geschickt wurde. Nur eine Frage musst du mir beantworten.« Sie richtete den Blick nach oben, auf die leeren Augen des Messias. »Ist ein Kind unterwegs?«
    »Nein!« Entsetzt stieß ich das Wort hervor. »Es ist nicht so, wie Ihr …«
    Wieder hinderte mich ihre Hand daran weiterzusprechen. »Wie ich bereits sagte, ich will es nicht wissen.« Schwester Marias Blick kehrte zu mir zurück. »Bürgermeister Wilbolts Mitgift ist großzügig, sogar sehr großzügig, doch unabhängig davon muss ich die Aufgabe, die mir von der Äbtissin übertragen wurde, mit Sorgfalt angehen. Deine Aufnahme in unserer Gemeinschaft hängt nicht von weltlichen Dingen ab, sondern …«
    Meine Knie wurden weich, der Saal begann sich zu drehen. Schwer setzte ich mich auf eine der Holzbänke.
    Schwester Maria unterbrach sich. »Man hat dir nicht gesagt, weshalb du zu mir kommen solltest?«
    Ich schüttelte den Kopf. Mir war auf einmal so übel, dass ich es nicht wagte, den Mund zu öffnen.
    »Was dachtest du denn, würde hier geschehen?«
    Nichts hatte ich gedacht, gar nichts. Und noch immer konnte ich nicht denken, sondern empfand nur Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ich hob stumm die Schultern.
    Es raschelte, als Schwester Maria sich neben mich auf die Bank setzte und meine Hand ergriff. Ihre Haut fühlte sich warm und trocken an. »Spürst du denn den Ruf nicht in dir?«
    Ich schluckte die Übelkeit hinunter. »Nein.«
    Sie schwieg einen Moment. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich ihr Blick wieder auf die Christusfigur über uns richtete. »Das kommt schon noch, hab keine Angst.«
    Ich fragte mich, ob sie dabei an mich dachte oder an die unbemalten Augen des Heilands.

Kapitel 9
    Ich verbrachte den Tag mit Beten, so wie Schwester Maria es geraten, nein, eher befohlen hatte. Unmittelbar neben der Kapelle, in der ich die Nonnen gelegentlich singen hörte, gab es eine Holztür, die in einen kleinen, fensterlosen Raum führte. Dort betete ich und kniete dabei vor einem mit Kerzen eingerahmten Marienaltar, der mit Trockenobst, etwas Brot und einer Weinkaraffe geschmückt war. Mein Magen knurrte jedes Mal, wenn ich einen Blick darauf warf, deshalb konzentrierte ich mich auf einen Punkt auf der kahlen Wand über dem Altar.
    Das Schaffell unter meinen Knien nahm dem Boden die Kälte. Mit

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