Die Nonne und der Tod
zurückkehrten.
»Komm«, sagte Schwester Johannita.
Sie wartete, während ich meine Tracht von Falten und Stroh befreite, dann gingen wir schweigend zum Kapitelsaal. Die Nonnen und Novizinnen hatten sich dort ebenso versammelt wie die Konversinnen, und ihre Blicke zuckten kurz zu mir herüber, als ich den Raum betrat.
Mutter Immaculata stand an ihrem Pult und las aus der Benediktinerregel. Ich war so angespannt, dass ich ihren Ausführungen kaum folgen konnte. Es ging um Arbeit und das Seelenheil, das man darin finden konnte, doch viel mehr verstand ich nicht.
Am Ende der Lektion ging sie nicht zum Gebet über, wie sie es am Tag zuvor getan hatte, sondern trat hinter dem Pult vor und nahm das reich verzierte Silberkreuz, das um ihren Hals hing, in die Hand.
»Schwester Ketlin …« Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. »… hat sich versündigt. Sie hat wertvolle Tinte verschüttet, um ihre eigene Unzulänglichkeit zu vertuschen, hat aus Angst vor Strafe Mitschwestern dieser Tat bezichtigt und Schwester Johannita sogar Gewalt angedroht.«
Ich öffnete den Mund, aber eine Hand legte sich auf meinen Arm. Als ich den Kopf drehte, sah ich, dass Schwester Maria neben mich getreten war. »Sage nichts«, flüsterte sie. »Du würdest es nur schlimmer machen.«
Ich presste die Lippen zusammen und schwieg.
Mutter Immaculata betrachtete das Kreuz in ihrer Hand. »In der kurzen Zeit, in der sie bei uns ist, hat Schwester Ketlin damit gegen das Armutsgelübde verstoßen, gegen das Gelübde des Gehorsams und das der Demut. In den fünfzig Jahren, die ich in diesem Kloster verbracht habe, habe ich kaum etwas Schlimmeres erlebt.«
Schwester Johannita nickte.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Ketlin. Als ich davon erfuhr, wollte ich dich unseres Ordens verweisen, damit der Friede, den wir alle suchen, hier wieder einkehren kann, aber einige wenige Schwestern haben für dich das Wort ergriffen und an deiner Stelle um Gnade gebeten.«
Wer?, fragte ich mich. Benedikta vielleicht, aber sie war nur eine Novizin. Bei dieser Unterredung hatte man sie bestimmt nicht nach ihrer Meinung gefragt. Eine höherrangige Nonne musste für mich eingetreten sein.
Aus den Augenwinkeln sah ich Maria an, glaubte ein verstohlenes Lächeln zu sehen. Ich nahm ihre Hand in die meine und drückte sie kurz. Maria nickte.
»Tritt vor, Ketlin, und höre meine Entscheidung!«
Die Nonnen wichen zur Seite, bildeten eine Gasse, durch die ich zur Äbtissin ging. Ich blieb vor ihr stehen, den Kopf gesenkt, damit sie den Widerstand, den ich in meinem Blick vermutete, nicht sehen konnte. Mit den Fingern strich ich nervös über die Perlen des Rosenkranzes an meinem Gürtel.
»Deine Mitschwestern machen sich große Sorgen um dich, ebenso wie ich«, sagte Mutter Immaculata. »Aber ich mache mir auch Sorgen um sie, wegen des Unfriedens, den dein Verhalten stiftet. Ich bin der Meinung, dass nur innere Einkehr und das Zwiegespräch mit unserem Herrn Jesus Christus dir den Frieden bringen werden, den deine Seele so dringend benötigt. Aus diesem Grund werde ich dich von der Arbeit im Skriptorium entbinden. Du wirst die Tage in deiner Zelle verbringen und sie nur zu den Mahlzeiten, den Gebeten und den Gottesdiensten verlassen. Du wirst das Pergament, das deine Mitschwestern bei ihren Übungen beschreiben, zur Buße reinigen, bis Schwester Johannita beschließt, dass deine Schuld abgegolten ist. Was du in deiner Freistunde tust, bleibt dir überlassen. Du darfst sie an der frischen Luft verbringen, in der Kapelle oder im Refektorium, doch es ist dir untersagt, dich Alfonsa oder Klara zu nähern. Ich habe sie bereits in einer anderen Zelle untergebracht. Hast du diese Anordnungen verstanden?«
»Ja, ehrwürdige Mutter.«
»Nimmst du sie in Liebe und Dankbarkeit an?«
»Das tue ich.«
Mutter Immaculata ließ das Kreuz los. Sonnenlicht brach sich in dem polierten Silber. »Dann geh jetzt. Bruder Gebehart wird dir morgen früh nach dem Gottesdienst die Beichte abnehmen.«
»Danke, ehrwürdige Mutter.«
Ich drehte mich um und hob den Kopf. Niemand sah mich an. Ich wollte meine Wut hinausschreien, Klara und Alfonsa ins Gesicht spucken und ihnen das Kreuz, das sie nicht verdient hatten, vom Hals reißen, aber ich ballte nur die Hände zu Fäusten, damit niemand sah, wie sehr sie zitterten. Meine Schritte hallten durch den Kapitelsaal und dann den Gang hinunter bis zu meiner Zelle.
Es war, als hätte ich aufgehört zu existieren.
Ich schlief allein,
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