Die Nonne und der Tod
Feder hielt. Wir gingen langsamer als die anderen Nonnen, und Klara blieb immer wieder stehen und probierte den Federkiel an den Steinwänden aus.
»Du hältst ihn viel lockerer als ich«, sagte sie, kurz bevor wir das Skriptorium betraten. »Das dürfte der Grund sein.«
Sie steckte den Gänsekiel ein und wandte sich ab, ohne mir zu danken. Ich versuchte, es ihr nicht übel zu nehmen, dachte stattdessen daran, dass sie einen ebenso schweren Weg zu gehen hatte wie ich.
Die Nonnen setzten sich bereits wieder an ihre Pulte, einige streckten sich vorher oder massierten ihre Finger. Schwester Immaculata ging an ihnen vorbei zu der Nische, in der ich und die anderen Novizinnen gesessen hatten. Alfonsa und Klara standen an einem der Regale und schnitten ihre Federkiele zurecht, Benedikta ließ sich von Constantia die Illustration zeigen, an der sie gerade arbeitete.
Ich sah, wie Schwester Johannita mein Pergament in die Hand nahm. Sie wandte mir den Rücken zu, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen.
»Ketlin!«
Ihr Ruf, wütend und ungläubig zugleich, ließ alle innehalten. Stille senkte sich über das Skriptorium. Durch ein Meer aus Blicken ging ich auf die Nische zu. Mein Herz schlug schneller, Übelkeit krampfte meinen Magen zusammen.
Schwester Johannita drehte sich um. In ihrem Gesicht zuckte es, als sie das Pergament hochhielt. Tinte lief daran herunter und tropfte auf den Boden. Die Buchstaben waren verschmiert und nicht mehr zu erkennen. Es sah aus, als habe jemand Tinte auf dem Pergament verschüttet und verwischt.
»Geh in deine Zelle.» Schwester Johannita sprach leise, aber ihre Stimme zitterte vor Wut. »Das wird ein Nachspiel haben.«
Ich blieb stehen. »Ich habe das nicht getan.«
»Ich sagte, geh in deine Zelle.«
Wut und Enttäuschung stiegen in mir hoch, brachten mich dazu, den Kopf zu schütteln und auf Alfonsa und Klara zu zeigen. »Sie waren es. Sie können es nicht ertragen, dass ich etwas besser kann als sie. Deshalb haben …«
Schwester Johannita war mit zwei Schritten bei mir und schlug mir mit der Hand so hart ins Gesicht, dass ich taumelte. Im letzten Moment stützte ich mich an einem Pult ab und fuhr herum. Erst als ich die entsetzten Blicke der Nonnen sah, wurde mir klar, dass ich die Hand erhoben hatte, um zurückzuschlagen.
Ich ließ sie sinken. Meine Wange brannte, Tränen stiegen mir in die Augen. Schwester Johannita sah mich an, den Mund zusammengekniffen, das Gesicht gerötet. »Geh.«
Ich ging.
In meiner Zelle legte ich mich auf die Strohmatratze und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Es war kurz nach Mittag, und graues Licht fiel in den Raum. Ich hatte ihn noch nie bei Tag gesehen, hatte noch nie bemerkt, wie kahl die Mauern wirkten und wie zerschlissen die Vorhänge waren. Er erschien mir dunkler als in der Nacht.
Stundenlang lag ich auf dem Rücken und dachte darüber nach, was ich sagen würde, wenn Alfonsa und Klara die Zelle betraten. In meinen Gedanken war ich mal herablassend und kalt zu ihnen, mal wütend und aufbrausend. Einmal fiel ich sogar über die beiden her und schlug sie, bis sie auf Knien zu Mutter Immaculata rutschten und ihre Sünden beichteten.
Nach einer Weile wurde es dunkel. Ich zog mir die Decke bis über die Brust und achtete darauf, dass meine Hände zu sehen waren. Ich hatte nichts falsch gemacht, und dabei sollte es bleiben. An das »Nachspiel«, von dem Schwester Johannita gesprochen hatte, versuchte ich nicht zu denken. Vielleicht saßen die Nonnen bereits zusammen und unterhielten sich über das, was vorgefallen war, suchten nach einer Schuldigen. Ob sie wohl die Nonnen aus dem Skriptorium befragten, und wenn es so war, würde Benedikta erzählen, was sie gesehen und gehört hatte?
Als die Glocken zur Vesper läuteten, stand ich auf, zog meine Tracht zurecht und achtete darauf, dass die Haube richtig saß, doch niemand kam. Ich blieb stehen, bis ich vor Kälte zu zittern begann, dann legte ich mich wieder hin.
Auch zur Komplet öffnete niemand meine Tür. Die Nacht brach herein, und ich war ganz allein. Noch nie zuvor hatte ich allein in einem Zimmer geschlafen. Es war ein seltsames Gefühl, nicht den Atem eines anderen Menschen zu hören und keine Geräusche außer denen, die man selbst verursacht. Ich schlief schlecht, wachte immer wieder auf, weil ich glaubte, jemanden in der Zelle zu hören, oder weil die Glocken die anderen zum Gebet riefen. Meine Tür wurde erst nach Sonnenaufgang geöffnet, als die Nonnen von der Laudes
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