Die Nonne und die Hure
eine Stufe höher als die zwischen Mann und Frau und damit göttlich. Was nützte all diese Philosophie? Es wird immer Menschen geben, die ihren eigenen Begierden und Lüsten nachgehen und gar nicht erst fragen, was Liebe ist, die es sich einfach nehmen, wie es ihnen passt.
Irgendwann schlief Celina ein. Als sie erwachte, war es dunkel im Raum. Sie erhob sich mühsam vom Bett und schaute sich um. Da weiter hinten war ein etwas hellerer Fleck, das musste das Fenster sein, durch das der Mond oder die Sterne schwach hereinschienen. Sie stützte sich am Bett ab und wankte zum Tisch hinüber. Schließlich war sie am Fenster. In welchem Teil des Palastes sie sich wohl befand? Das Fenster war offen; sie konnte bis hinunter zu einem schmalen Kanal schauen, der im Mondlicht glitzerte. Wer versuchte, dort hinaus zu fliehen, würde in den Tod stürzen. Wie viele arme Mädchen hier schon gefangen gehalten worden waren? Ihre Schreie waren sicherlich ungehört verhallt. Sie hörte ein Scharren, ganz in der Nähe. Kam da ein Mensch an der Mauer herunter? Tatsächlich, eine männliche Gestalt seilte sich herab. Sollte sie sich zu erkennen geben? Wer mochte das sein? Ihre Freunde fielen ihr ein. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie in den Bleikammern gefangengehalten wurden und ihnen nun die Flucht über das Dach des Palastes gelang.
»Wer seid Ihr?«, rief Celina halblaut.
Die Gestalt zuckte zusammen.
»Celina«, kam es zurück, »bist du das? Gott im Himmel, welche Freude!«
Es war Christoph. »Hat man dich hier eingesperrt? Wir saßen nicht weit von hier in den Bleikammern.«
»Es war Lion, der Abt, nicht die Signoria della Notte.«
»Gib mir deine Hand«, sagte er kurzentschlossen. »Wir seilen uns zusammen ab.«
Sie vergaß ihre Schmerzen und kletterte auf den Fenstersims. Nur nicht nach unten schauen. Christoph schwang sich am Seil herüber. Schon hatte er sie um die Taille gepackt und zog sie zu sich. Ihre Hände bekamen das Seil zu fassen. Langsam ging es in die Tiefe. Der Hanf schnitt ihr in die Hände und riss sie blutig, aber was machte das schon? Sie landeten in der wartenden Gondel.
Einer nach dem anderen kamen Hans und Brinello herunter. Das Seil ließen sie hängen. Binnen weniger als einer Stunde würden die Signori della Notte die Löcher entdeckt haben und ihre Flucht melden. Bis dahin mussten sie verschwunden sein. Celina wusste nicht, wohin die Gondel sie bringen würde, aber das war auch nicht wichtig, Hauptsache, fort von diesem Ort des Schreckens.
Geisterhaft schwebten die Palazzi an ihnen vorüber, plätschernd tauchte das Ruder ins Wasser, das den vertrauten Geruch nach Meer und Seifenlauge hatte.
»Wohin werden wir gebracht?«, fragte sie flüsternd.
Brinello, der neben ihr saß, antwortete leise: »Zur Klosterinsel, zum Abt Murare. Er ist der Einzige, der uns jetzt noch helfen kann.«
Bei all der Wirrnis, die in Celinas Kopf herrschte, empfand sie es wie Heimkommen, als die gedrungene Kuppel von La Fosca vor ihnen im Mondlicht auftauchte.
31.
Der Pförtner sagte ihnen, dass der Abt sich zur Ruhe begeben habe, weil er einen schweren Tag gehabt habe. Als er das getrocknete Blut auf Celinas Kleid sah, ging er mit ihnen zum Dormitorium und weckte einen Bruder, damit er sie verband und ihr Ringelblumensalbe auf die Wunden strich. Die Männer bekamen einen Platz im Dormitorium zugewiesen, Celina ein Bett im Besucherzimmer.
Am nächsten Tag nach dem Morgengottesdienst ließ Murare die vier auf sein Zimmer kommen. Sein Gesicht war von tiefen Furchen gezeichnet, als hätte er mehr als nur eine schlaflose Nacht verbracht.
»Man hat mir schon gestern berichtet, was Euch widerfahren ist, Celina Gargana«, begann er ohne Umschweife, »und es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich nicht mehr schweigen kann. Ich habe stundenlang mit mir gerungen, habe Gott angerufen und ihn angefleht, mich vom meinem Schweigegelübde zu entbinden. Ich stehe zutiefst in Eurer Schuld. Und ich hoffe, das, was ich Euch jetzt zu sagen habe, kommt nicht zu spät.«
Celina atmete tief durch. Sie war gespannt, was der Abt ans Tageslicht bringen würde.
»Nehmt erst einmal Platz«, sagte Murare und wies auf die bereitgestellten Stühle. »Wie Ihr sicher wisst, wurde das Kloster Convertite vor wenigen Jahren als Besserungsanstalt für ›gefallene Mädchen‹ und reuige Prostituierte errichtet. Der Abt Giovanni Pietro Lion wurde von der Kirche für dieses Amt auserwählt, weil er als besonders fromm und darauf bedacht galt,
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