Die Nonne und die Hure
verfolgt hat?«
»Sie stand nur da und schaute mich aus leeren Augenhöhlen an. Dann kam sie mit ausgestreckten Armen auf mich zu, als wolle sie mich erwürgen.«
Sie waren inzwischen beim Haus des Verlegers angekommen.
»Kommt herein«, sagte Brinello. »Wir müssen beraten,was weiterhin zu tun ist. Ich wittere irgendeine Schweinerei.«
Nachdem sie es sich in der Wohnstube gemütlich gemacht hatten, fuhr der Verleger fort: »Die Figur des Löwen, die dem Mädchen eingebrannt war, gibt mir zu denken.«
»Der Löwe steht für Macht, insbesondere für die Macht der Serenissima«, sagte Christoph.
»Er steht aber auch für Hochmut und Ehrgeiz«, warf Celina ein.
»So, wie wir es bei Dante gelesen haben?«, meinte Christoph und lächelte.
Celina erwiderte: »Ich kannte ihn schon vorher. Im Stadthaus meiner Eltern gibt es eine große Bibliothek. Schon früh habe ich angefangen, mich mit den Werken der Dichter zu beschäftigen.«
»Wobei wir unterscheiden müssen, ob sich das auf den Täter oder das Opfer bezieht«, sprach Brinello weiter. Er schloss einen Moment lang sinnend die Augen. »Es könnte bedeuten, dass derjenige, der das Mädchen auf dem Gewissen hat, über sehr viel Macht verfügt«, meinte er dann.
»Glaubt Ihr, dass die Signori della Notte den Mörder fassen werden?«, fragte Celina.
»In dieser Stadt wird im Allgemeinen mehr vertuscht als offengelegt. Ich hätte gerade Lust, ein entsprechendes Flugblatt zu verfassen. Aber ich glaube, damit würde ich uns alle gefährden.«
»Ich habe Angst um dich, Celina«, sagte Christoph.
Hatte er gerade ›du‹ gesagt?
»Ich gebe schon auf mich acht«, versetzte sie.
»Möchtest du eigentlich den Schleier wieder nehmen?«, fragte Christoph weiter.
»Nein, du hattest recht. Das Klosterleben widerspricht meiner inneren Natur«, sagte Celina.
»Und dieses … andere Leben … gefällt dir das besser?«
Sie warf den Kopf zurück, dass ihre kurzen dunklen Haare flogen, und lachte. »Natürlich! Ich hatte mir nie etwas anderes vorgestellt. Das Kloster war ein Unglücksfall.«
»Dann möchtest du also nicht dorthin zurück?«
»Um nichts in der Welt!«
Die nächsten Tage vergingen quälend langsam. Celina kribbelte es am ganzen Körper, so sehr fühlte sie sich eingeschlossen, so sehr hasste sie es, sich verstecken zu müssen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie bat Hans, ihr Pilgerkleidung zu besorgen, damit sie sich unerkannt unter die Leute mischen konnte. Christoph und Brinello sagte sie nichts davon. Schließlich nahm sie von Hans die Kleidungsstücke entgegen, eine Tunika mit Gürtel, ein Skapulier und eine Kukulle. Als die anderen in der Druckerei beschäftigt waren, zog sie sich um und huschte aus dem Haus. Über den Campo dei Santi Apostoli gelangte sie zum Fondaco und weiter über San Zullian zum Dogenpalast. Sie schlenderte am gemauerten Kai entlang. Es war ein warmer Märztag; am Himmel zogen Federwölkchen vorbei, und das Wasser der Lagune schimmerte tiefblau. Kleine Wellen plätscherten ans Ufer. Viele Menschen liefen immer noch mit Masken und Kostümen herum; in dieser Stadt war anscheinend das ganze Jahr hindurch Karneval.
Auf der Höhe des Arsenals, der Schiffbauwerft, sah sie eine Menschenansammlung. Ein städtischer Büttel bahnte sich einen Weg durch die Menge. Als die Menschen auseinander wichen, sah Celina eine Frauengestalt in Nonnenkleidung daliegen, die man offenbar soeben aus dem Wasser gezogen hatte.
»Geht nach Hause!«, wies der Büttel die Leute an. »Hier gibt es nichts zu gaffen.«
Widerwillig zerstreute sich die Menge.
»Wer ist das Mädchen?«, fragte Celina eine zahnlose alte Frau.
»Eine junge Nonne aus dem Kloster Convertite«, gab die Alte zurück. Ihre Augen glitzerten sensationslüstern.
»Hat sie …?«, setzte Celina an, brach dann aber ab, weil ihr die Frage zu direkt vorkam.
»Ihr war das Zeichen eines Löwen in den Oberschenkel gebrannt, falls Ihr das meint. Genau wie bei der anderen am Rio delle Convertite.«
Im Zurückschauen sah Celina, dass die Leiche auf einen Handkarren geladen und mit einem Tuch bedeckt wurde. Ein städtischer Bediensteter zog den Karren fort in Richtung Innenstadt. Gedankenverloren lief Celina durch die Gassen und dachte über die Todesfälle nach. Plötzlich fiel ein Schatten auf sie. Direkt vor ihr stand die Gestalt mit der Totenmaske!
»Was wollt Ihr von mir?«, rief sie in höchster Angst.
»Du sollst aufhören, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts
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