Die Novizin
wurde mir so übel, dass ich glaubte, mich erbrechen zu müssen, auch wenn ich kaum etwas im Magen hatte. Seit Wochen bekam ich nichts anderes als schimmlige Brotkrusten und faulig stinkendes Wasser. Einen Augenblick lang dachte ich, ich würde in Ohnmacht fallen, doch dann erschien plötzlich ein Licht in der pechschwarzen Finsternis.
Wenig später drang das wohlbekannte Summen an mein Ohr. Das Licht schwoll an und pulsierte wie die Haut einer Trommel.
Auf einmal war sie da, in der Ecke meiner Zelle. Solange sie still verharrte, wirkte sie wie aus Fleisch und Blut, doch wenn sie sich bewegte, konnte ich nur noch verschwommene Farben erkennen. Es war die Frau, die mir am Teich erschienen war. Sie sprach kein Wort, sondern lächelte nur, als wolle sie sagen: Warum siehst du so verloren aus?
Ein Lächeln voll unendlichen Mitleids und grenzenloser Güte. Das Lächeln einer Mutter.
Ich vermag nicht zu sagen, wie lang die Erscheinung bei mir blieb. Einen Tag, eine Nacht oder vielleicht lediglich einen Wimpernschlag lang? Ich senkte kurz den Blick, und als ich wieder hinsah, war sie verschwunden.
An ihrer Stelle sah ich den Mönch in einer Schlinge von der Decke baumeln. Seine Zunge hing schwarz aus dem Mund. Die Vision zuckte durch die Zelle wie ein Blitz und war ebenso schnell wieder vorbei. Danach kehrte die vollkommene Dunkelheit zurück.
SUBILLAIS
In der Kirche der Heiligen Maria Magdalena drängten sich die Menschen. Im Hauptschiff war ein großes hölzernes Podest errichtet worden, und Bruder Donadieu und ich hatten alle bedeutenden Bürger der Stadt eingeladen, dort mit uns Platz zu nehmen – oder vielmehr jene Bürger von Rang, die nicht unter den Angeklagten waren. Auch das niedere Volk strömte in das Gotteshaus, um sich die Verkündigung der Strafen nicht entgehen zu lassen. Es sollte für sie alle eine lehrreiche Erfahrung sein. Einhundertsiebenundsechzig Einwohner von Saint-Ybars hatten vor dem Ketzergericht zu erscheinen. Sie wurden alle auf einmal in die Kirche getrieben. Vor uns lag ein langer Tag, aber wir hatten gute Arbeit verrichtet, gelobt seien Unser Herr und Erlöser und der Heilige Dominik.
Pons las das Geständnis eines jeden Büßers laut vor. Danach folgten die Urteilssprüche.
»Wir, die Mönche des Predigerordens, Hector Subillais und Bernard Donadieu, durch apostolische Befugnis Inquisitoren der ketzerischen Verderbtheit in der Diözese von Toulouse, verkünden hiermit: Wir erachten es angesichts des freiwilligen Geständnisses von Martha Fauré als erwiesen, dass sie mit einem Häretiker verkehrt hat, wenn auch unwissentlich. Daher ist es unser Wille, dass sie zum Wohl ihrer unsterblichen Seele eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela, zur Kirche Saint Maximin in Aixen-Provence und zur Kirche Saint Julien in Anjou antrete und von den Geistlichen dieser Orte Briefe mitbringe, um zu bezeugen, dass sie die Wallfahrt ordnungsgemäß durchgeführt hat. Diese Buße ist in einem Zeitraum von einem Jahr zu vollenden …«
Die Büßer wurden aufgefordert, aller Häresie abzuschwören, dem Heiligen Vater und der Kirche Gehorsam zu geloben und ihren Glauben an die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi in den Sakramenten zu bekräftigen. Sobald sie nicht nur ihren eigenen Sünden, sondern auch der Ketzerei im Allgemeinen abgeschworen hatten, wurde ihre Exkommunikation rückgängig gemacht und ihnen Gnade zugesichert – unter der Bedingung, dass sie der Kirche gegenüber Treue bewiesen und die Bußen erfüllten, die ihnen auferlegt worden waren.
»… Da Sybille de Peyrolles gestanden hat, dass sie Hexerei getrieben, ihre Nachbarn mit Zaubersprüchen belegt und sich in gotteslästerlicher Weise geäußert hat, ist es unser Wille, dass sie für diese Sünden gegen Gott und seine Heilige Kirche für sieben Jahre in den Kerker geworfen werde. Wir mahnen sie kraft des von ihr geschworenen Eides, die Buße zu vollenden …«
Der Tag schritt voran. Pons’ Stimme wurde heiser, und der Seigneur nickte in seinem Stuhl ein. Ich war gezwungen, ihn immer wieder wachzurütteln.
»… Da Aimery Maurand gestanden hat, sich vor einem Häretiker verneigt und seiner Predigt gelauscht zu haben, sich viele Male verächtlich über die Kirche geäußert zu haben, Steine auf ein Abbild der Madonna geworfen zu haben und des Weiteren so vieler verschiedener Gotteslästerungen schuldig ist, dass sie hier nicht alle aufgezählt werden können, ist es unser Wille, dass er sieben Jahre lang ein gelbes Kreuz auf
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