Die Novizin
Lehrlinge meines Vaters hegte, und Sicard ging es angesichts seiner Verbindung zur Tochter seines Meisters wohl nicht anders. Er konnte sich noch nicht verehelichen, denn ein Haus und Kinder kosteten Geld, und solcherlei Ausgaben würde er sich erst leisten können, wenn er selbst Steinmetz war. Er ging seit drei Jahren bei meinem Vater in die Lehre und arbeitete ohne Lohn, weil er das Handwerk erlernen wollte. Schon bald, vielleicht im nächsten Jahr, würde er Saint-Ybars verlassen und sich in Toulouse Arbeit suchen müssen, um sich einen Namen zu machen. Womöglich wirkte er am Bau der Kathedrale mit oder errichtete Häuser für reiche Kaufmänner.
Mir graute vor dem Tag, an dem Sicard mich verlassen würde, doch zugleich betete ich dafür, dass er bald kommen möge, denn der Tag des Abschieds würde auch der erste Tag auf dem Weg zu einem eigenen Heim sein. Aber wie lange sollte ich auf Sicard warten? Ich war bereits im einundzwanzigsten Lebensjahr und schon seit geraumer Zeit im heiratsfähigen Alter.
Es wäre einfacher gewesen, einen wohlhabenden Kaufmann wie Monsieur Maurand zu lieben. Und wenn mein Vater arm oder habgierig gewesen wäre, hätte ich auch gar keine Wahl gehabt. Doch meine Eltern überließen die Entscheidung mir, obwohl die ganze Stadt hinter ihrem Rücken darüber klatschte. Meine Mutter pflegte immer zu sagen, dass man einem Schwein keinen Schwan zuführte.
Trotz alledem wusste ich, dass mein Vater mich gern verheiratet gesehen hätte, denn die Blicke, die ich auf dem Marktplatz auf mich zog, behagten ihm gar nicht. Er würde erst an jenem Tag ruhiger schlafen, an dem er die Verantwortung für mich einem anderen Mann übertragen konnte.
»Dein Vater sagt, dass mich die Zunft in Toulouse nach drei Jahren als Geselle zum rechtmäßigen Steinmetz ernennen wird. Dann werden wir unser eigenes Haus haben und dazu jeden Abend eine gebratene Gans auf dem Tisch.«
»Und du wirst mich zum Altar führen, wie es sich gehört?«
»Alles, was du willst.«
Drei Jahre … Eine Ewigkeit!
Unter uns auf der Straße entdeckte ich eine einsame Gestalt. Es war Fulquet, der Bucklige, auf dem langen, beschwerlichen Marsch zu seiner Hütte am anderen Ende des Tales.
»Ich habe die Söhne des Bäckers gestern wieder dabei erwischt, wie sie ihn peinigten.«
Sicard setzte sich auf. »Wen?« Als er Fulquet erblickte, runzelte er die Stirn. »Man sagt, er sei besessen.«
Sein gleichgültiger Tonfall machte mich wütend. Vermutlich hätte mich auch ein noch geringerer Anlass erzürnt, denn ich war ohnehin gereizt. »Wie kannst du nur so dumm sein?«
Schon im nächsten Moment hasste ich mich für meine Worte, denn Sicard warf mir einen verletzten Blick zu. »Der Priester sagt das auch«, murmelte er zu seiner Verteidigung.
»Besessen? Nur weil er einen Buckel hat?«
»Es heißt, das sei ein Zeichen des Teufels.«
»Sage mir eines, Sicard – hat Gott nicht alle Dinge erschaffen?«
»Das hat er.«
»Und hat er nicht auch Fulquet erschaffen?«
Sicard schmollte, wie immer, wenn ich ihn in ein Streitgespräch verwickelte.
»Warum sollte Gott ein Geschöpf wie Fulquet schaffen, wenn er es nicht genau so gewollt hat? Wie kann ein wahrhaft guter Gott etwas hervorbringen, was böse ist?«
Sicard erbleichte. In jenen Tagen war es gefährlich, eine solche Aussage zu machen, und ich hatte Ähnliches bisher lediglich von meiner Mutter vernommen. Durch die Soldaten des Papstes hatten viele Leute ihre Meinung über den Nutzen von derlei Gesprächen geändert.
»Pass auf, dass dich nie jemand so reden hört!«, zischte Sicard mir zu und verfiel dann in furchtsames Schweigen.
Auch ich schwieg, denn ich war selbst erschrocken über meine Worte. Außerdem bereute ich meinen harten Ton Sicard gegenüber. Ich fragte mich, welch schelmischer Engel uns zusammengeführt hatte. Eine einfachere Frau mit einer weniger spitzen Zunge und einem sanfteren Wesen wäre für den armen Sicard gewiss besser gewesen. Aber was erwartete er denn von einem Mädchen mit roten Haaren?
Doch anstatt mir böse zu sein, legte er seinen Arm um meine Schultern und hielt mich fest. In seinen Armen hatte ich mich schon immer sicher und geborgen gefühlt. Ich fragte mich, was ich jemals ohne ihn anfangen würde.
»Es heißt, dass du oben auf dem Berg etwas gesehen hast«, bemerkte er.
Mir war, als hätte mir jemand ein heißes Eisen in die Brust gestoßen. Ich machte mich von ihm los. »Wer hat dir das gesagt?«
Natürlich kannte ich die Antwort.
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