Die Novizin
Liebe Frau, die in einer Wandnische über die Gemeinde wachte. Anders als bei ihrem Abbild in der Kirche von Saint Gilles waren die Farben dieser Statue beinahe völlig verblasst, sodass der bleiche Stein durchschimmerte. Ich hatte Angst davor, dass sie genau diesen Moment wählen könnte, um zu mir zu sprechen, doch sie schien ebenso gleichgültig und abwesend zu sein wie ich.
Schließlich mussten wir die Predigt über uns ergehen lassen. Als er in meinem Alter gewesen sei, so hatte mir mein Vater erzählt, habe der Priester keine derartigen Tiraden von sich gegeben und von den versammelten Gläubigen lediglich erwartet, dass sie bei den heiligen Handlungen zugegen waren. Aber damit war die Kirche nicht länger zufrieden. Wir mussten uns Père Michels Ermahnungen anhören, dass wir uns an jedem Tag unseres Lebens um größere Frömmigkeit zu bemühen hätten, nicht bloß an Sonn- und Feiertagen.
Nachdem wir die heilige Kommunion empfangen hatten, verließen wir rasch das düstere Kircheninnere und traten hinaus in die helle Morgensonne. Schon bald versammelten sich die wichtigen und angesehenen Bürger der Stadt auf dem Vorplatz, um über geschäftliche Dinge zu reden. Der Baumeister der Kirche rief meinen Vater zu sich, weil er die Fortschritte der Reparaturarbeiten mit ihm besprechen wollte. Meine Mutter und ich warteten etwas abseits auf ihn.
Dann gesellte sich Monsieur Maurand zu uns. Er galt als einer der einflussreichsten Bürger von Carcassonne und hatte vor kurzem ein Anwesen in der Nähe unserer Stadt gekauft. Ich konnte ihn nicht besonders gut leiden, obschon ich zugeben muss, dass ich ihn kaum kannte. Vielleicht hatte mich die Meinung meines Vaters beeinflusst.
»Ich wünsche einen guten Tag, Madame de Peyrolles und Mademoiselle«, sagte er und verneigte sich kunstvoll.
»Guten Tag, Monsieur Maurand.« Wir erwiderten seinen Gruß so knapp, wie die Höflichkeit es erlaubte.
»Ausgezeichnetes Wetter heute«, bemerkte er.
»In der Tat.«
»Madeleine – Ihr werdet mit jedem Tag schöner.«
Ich rang mir ein Lächeln ab. Er sah zwar nicht schlecht aus, aber aus unerfindlichen Gründen stieß er mich ab.
»Ein so feines Mädchen und noch nicht vermählt.«
»Das hat noch Zeit«, sagte meine Mutter.
»Ihr wollt doch gewiss eine gute Partie machen.« Er musterte mich von oben bis unten, als sei ich ein Pferd, das er auf dem Markt zu kaufen beabsichtigte. Ich starrte ihn feindselig an. Wäre mein Vater ein Edelmann gewesen, der auf eine vorteilhafte Verbindung bedacht war, oder ein armer Mann, der sich seine Tochter möglichst schnell vom Hals schaffen wollte, dann wäre mein Schicksal wohl besiegelt gewesen. Zum Glück hatte er jedoch einen festen Charakter. Ich betete dennoch dafür, dass mein Vater der Versuchung standhalten würde. Schließlich war ich nur eine Frau und konnte keinen Einspruch erheben, falls er beschließen sollte, mich zu verheiraten.
»Sie ist das schönste Geschöpf, das ein Mann in dieser Stadt zu finden vermag. Ist sie jemandem versprochen?«
»Sie hat ihr Herz an den jungen Sicard Paylaurens verloren.«
»Verfügt er über ein Vermögen?« Als meine Mutter keine Antwort gab, begann Monsieur Maurand zu lachen. »Nun, dann werdet Ihr dem bestimmt bald Einhalt gebieten, nicht wahr?« Mit diesen Worten schlenderte er davon. Er verschwand jedoch erst in der Menschenmenge, nachdem er mir noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick zugeworfen hatte – wie ein Bär in Erwartung seiner Mahlzeit.
*
Sicard Paylaurens – was soll ich Euch über ihn erzählen?
Er war nicht gerade der attraktivste unter den jungen Männern. Manche fanden sein Äußeres ein wenig seltsam, denn er glich den Skulpturen, die er für die Kapitelle unserer Kirche anfertigte – übergroß um der Wirkung willen. Sein kastanienbraunes Haar fiel ihm über die dunkelbraunen Augen, von denen eines größer und dunkler war als das andere. Auf diesem Auge war seine Sehkraft schwach, was seine Kunstfertigkeit mit Hammer und Meißel nur noch bemerkenswerter machte.
Aber es war gerade das Eigenartige an ihm, das schnell meine Zuneigung gewonnen hatte. Er war ein solch unbeholfener Kerl, mit riesigen, derben Händen und im Gegensatz dazu einer außerordentlich sanftmütigen Art. Ich behaupte, dass ich es war, die sich ihn aussuchte und nicht umgekehrt. Hätte ich darauf gewartet, dass er mir den Hof macht, wären meine Haare darüber so grau geworden wie die meiner Mutter.
Er lehnte vor der Kirche an einer
Weitere Kostenlose Bücher