Die Novizin
Blindheit geheilt ist. Gestern haben sich die Menschen zu Hunderten auf den Weg zum Berg gemacht.«
Das waren schlechte Neuigkeiten. Ich wusste, was dies für mich bedeutete.
»Da kannst du sehen, was deine Einbildung angerichtet hat«, sagte er, und zum ersten Mal hörte ich einen Vorwurf in seiner Stimme.
»Es war keine Einbildung.«
»Dann war diese Frau also aus Fleisch und Blut, und du hast dir nur eingebildet, dass sie plötzlich verschwand.«
»Sie war mir so nah wie du jetzt, und als ich aufblickte, war sie fort. Wie ist das möglich?«
»Engel gibt es nur in der Bibel. Sie kommen nicht hierher nach Saint-Ybars.« Sicard war wütend.
»Ich habe nie gesagt, dass es ein Engel war. Ich habe keinerlei Behauptungen aufgestellt, Sicard. Und wenn von allen Einwohnern dieser Stadt noch nicht einmal du es glaubst, sollte ich mich wohl mit keinem von euch mehr abgeben!«
Ich sprang auf die Füße und ging davon. Er kam hinter mir hergelaufen und packte mich am Arm. »Sie sagen, dass der Inquisitor herkommen wird!«
Meine Knie gaben beinahe nach. Genau das hatte ich befürchtet: dass der Predigerorden in Toulouse auf mich aufmerksam würde. Selbst das Interesse des Teufels wäre mir lieber gewesen.
»Ich weiß, was ich gesehen habe!«
»Dann können wir nur hoffen, dass der Inquisitor dir glaubt.«
Ich schüttelte Sicards Hand ab und begann zu laufen. Er rief meinen Namen. Doch diesmal versuchte er nicht, mir zu folgen.
ELEONORE
Rauch, Hunde und herumlungernde Söldner füllten die große Halle. In der Luft hing der Geruch vergangener Mahlzeiten und die übliche staubige Muffigkeit, die im Sommer aus sämtlichen Mauern der Burg drang. Daran hatten wir alle uns schon längst gewöhnt. In einer Ecke standen mehrere Tische, auf denen in Kürze das Mittagessen meines Herrn serviert werden würde. Ich wusste, dass er es kaum erwarten konnte.
Die Flügel der schweren Eichentür öffneten sich, und das Mädchen Madeleine de Peyrolles trat ein. Einen Moment lang war sie in helles Licht getaucht, sodass ich meine Augen abwenden musste. Dann wurde die Tür geschlossen, und ich konnte sie klar und deutlich sehen.
Man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass dies kein gewöhnliches Mädchen war. In seinen Augen lag ein seltsames Leuchten, außerdem waren sie von einem geradezu unnatürlichen Grün. Madeleine de Peyrolles besaß den unergründlichen Blick einer Katze. Ihr Haar war so rot wie das Fell eines Fuchses und hing ihr wild über die Schultern. Wild – dies war genau das richtige Wort für dieses Mädchen. Alles an ihr erschien wild und ungezähmt.
Raymond rutschte in seinem Stuhl mit der hohen Lehne unbehaglich hin und her. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte ich Madeleine allein empfangen sollen. Ich hatte jedoch darauf bestanden, dass auch er anwesend war, damit er selbst sehen konnte, welchen Ärger sie machen würde. Die ganze Stadt wusste, dass sie eine Hexe war und ihre Mutter eine Quacksalberin, die das Fieber mit Kräutern und Zaubersprüchen behandelte und zudem Hebamme spielte. Ihr Vater war ein Wandersteinmetz, der an der Kathedrale des Heiligen Stefan in Toulouse gearbeitet und seine Stellung dort unter mysteriösen Umständen verloren hatte. Er war vor ungefähr drei Jahren mit seiner Familie nach Saint-Ybars gezogen, und Raymond hatte ihn mit der Reparatur der alten, der heiligen Maria Magdalena geweihten Kirche beauftragt.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn diese Familie nie hierher gekommen wäre. Diese Art von Wunder konnten wir nicht gebrauchen.
»Tritt näher, Mädchen!«, sagte ich, und Madeleine machte einen Schritt nach vorn. Sie wirkte niedergeschlagen und beinahe so, als könne sie kein Wässerchen trüben. Aber ich wusste es besser. Ihre Hände hingen zu Fäusten geballt an ihren Seiten. »Zeig es uns!«
Sie tat wie ihr geheißen und streckte die Hände aus.
In den Handflächen befanden sich zwei tiefe Wunden, die zu bluten anfingen, sobald sie die Fäuste öffnete. Erstauntes Gemurmel ging durch die Halle. Inzwischen hatten sich fast alle Burgbewohner hier versammelt, um diesen eigenartigen Empfang mitzuerleben.
Für mich war offenkundig, dass das Mädchen sich diese Wunden selbst beigebracht hatte.
Raymond rutschte erneut hin und her und rieb sich mit den Zeigefingern über die Schläfen.
»Hast du diese Male noch an anderen Stellen?«, fragte ich Madeleine.
Sie zog ihre Schuhe aus und hob den Saum ihres Rockes hoch. Auf ihren Füßen klafften zwei weitere
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