Die Novizin
Wunden, die so tief waren, dass man den weißen Knochen sehen konnte. Ich wunderte mich, dass das Mädchen überhaupt zu laufen vermochte. Die leichtgläubige Menge in der Halle keuchte vor Entsetzen und Überraschung.
»Wie bist du an diese Wunden gekommen?«
»Ich wurde überfallen, Herrin.«
»Überfallen?«
»Im Wald, von einem Räuber.«
»Einem Räuber? Wie kann ein Räuber derartige Wunden verursachen?«
»Er hatte einen Dolch, Herrin. Ich hielt die Hände hoch, um mich zu schützen.«
Zum ersten Mal zeigte Raymond ein gewisses Interesse und beugte sich vor. »Was ist mit deinen Füßen?«
»Ich stürzte und versuchte, ihn zu treten.«
»Ihn zu treten?« Er warf mir einen Blick zu. »Ihn zu treten?«, fragte er noch einmal.
Das war die unglaubwürdigste Geschichte, die ich je im Leben gehört hatte, obwohl meine Geduld schon viele Male von meinem Ehegatten auf die Probe gestellt worden war. Diese rätselhaften Wunden hatte sich das Mädchen auf jeden Fall selbst zugefügt. Wir hatten es hier eindeutig mit einer Unruhestifterin zu tun. Es war am besten, ihren Vater dazu zu bewegen, fortzugehen, sein Handwerk irgendwo anders auszuüben und seine lästige Tochter mitzunehmen. Doch dann wurde mir klar, dass es dafür wahrscheinlich bereits zu spät war.
Nicht allein ihre Lügen beunruhigten mich, sondern ihr Auftreten. Sie schien sich nicht im Geringsten vor uns zu fürchten, obwohl sie uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Es gefiel mir nicht, dass sie immer wieder den Blick hob und uns anstarrte, als könne sie bis auf den Grund unserer Seele schauen.
Raymond beugte sich weiter vor und runzelte die Stirn. Sie verstörte ihn ebenfalls, aber er war wohl nicht sicher, wie er mit ihr verfahren sollte. Ihr konnte nichts zur Last gelegt werden, außer, dass sie Unruhe in die Stadt gebracht und mittlerweile zweifellos die Aufmerksamkeit des Bischofs in Toulouse erregt hatte.
»Wie lautet dein Name?«, wollte er schließlich von ihr wissen.
»Madeleine, Monseigneur. Madeleine de Peyrolles.«
Er nickte, als habe er gerade eine große Weisheit vernommen. Mein guter Raymond! Er besaß keinerlei Entschlusskraft, es sei denn, es ging um die Jagd.
»In der Stadt gibt es Gerede«, wandte ich mich an das Mädchen. »Man sagt, dir sei in einer Vision die Heilige Jungfrau erschienen.« Das Mädchen schien nicht gewillt, zu antworten, sodass ich gezwungen war, einen schärferen Ton anzuschlagen. »Nun? Hast du eine solche Vision gehabt?«
»Ja, Herrin.«
»Und wo war das?«
»An einem Weiher, Herrin. Er liegt eine Wegstunde nördlich der Stadt, über den Ruinen des Chatelets.«
Sie war dort gewesen, ohne Zweifel. In der Höhle. Was führte sie nur im Schilde? Wenn sie also inzwischen wusste, was sich in Wahrheit im Inneren der Höhle befand, warum hatte sie dann diesen Unsinn über die Madonna erfunden?
Raymond warf mir einen Blick zu. Er hatte die Veränderung in meinem Gesichtsausdruck bemerkt, sagte jedoch nichts. Ich gab mir Mühe, mein Unbehagen zu verbergen. »Hat diese Vision zu dir gesprochen?«, fragte Raymond.
Madeleine schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es war nur die Sonne. Das Licht hat mich getäuscht. Es tut mir Leid, wenn ich Anstoß erregt habe.«
»Das Licht hat dich getäuscht?«, entgegnete mein Gatte höhnisch und blickte zu mir herüber, um festzustellen, ob mich diese Antwort beschwichtigt hatte. Dann ließ er sich gelangweilt in seinen großen Lehnstuhl zurücksinken. Er sah keinerlei Gefahr. Aber er kannte ja auch nicht mein großes Geheimnis.
»Warum muss ich hier sitzen und mir das anhören?«, fragte er.
»Was soll mit ihr geschehen?«
»Die Armen und Unwissenden sehen die Jungfrau überall. Ich kann daran nichts Verwerfliches finden. Wenn irgendein armer Siecher sich für geheilt hält und die Neuigkeit verbreitet, umso besser. Das bringt Pilger und mit ihnen Geld in die Stadt.«
»Und was ist, wenn es stattdessen den Bischof oder einen der Inquisitoren des Papstes herbringt?«
»Ihr seht in jedem Schatten den Teufel.«
Seine Selbstgefälligkeit erzürnte mich, doch was sollte ich machen? Ohne gewisse Überredungskünste würden wir nicht herausfinden, was das Mädchen tatsächlich wusste oder plante, und ich hatte weder die Absicht noch einen stichhaltigen Grund, solche Maßnahmen zu ergreifen.
Es war die sechste Stunde des Tages, und ich sah, dass es meinen Gatten nach seinem Mahl verlangte. Er entließ Madeleine de Peyrolles mit einer flüchtigen Geste. Ihre
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