Die Novizin
Bist du zur Höhle hochgestiegen?«
»Nein!«
»Bei Gott, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, werde ich dich auspeitschen!« Mit diesen Worten riss er die Zügel zurück, sodass sich sein Pferd aufbäumte. Die mächtigen Hufe krachten nur einen Zoll von meinem Gesicht entfernt wieder auf die Erde.
»Nein! Ich habe bloß eine Frau gesehen! Lasst mich!« Ich kreischte und schluchzte zugleich. Ich hatte mich nass gemacht. Noch niemals zuvor hatte ich solche Angst gehabt.
Der Templer beruhigte sein Ross. Ich nahm allen Mut zusammen und hob meinen Blick. Er starrte angeekelt auf mich herab, als sei ich ein Haufen Dung, dem er auf der Straße ausweichen musste. »Du bist mir hier nie begegnet und du hast niemals mit mir gesprochen. Hast du verstanden?«
Ich nickte.
»Hast du verstanden?«, schrie er.
»Ja, Herr.«
Er galoppierte davon.
*
Das zweite Wunder war mir sehr viel weniger willkommen als das erste. Um es zu verbergen, trug ich fingerlose Handschuhe, obwohl der Wechsel der Jahreszeiten nur kaum merklich vonstatten ging und das Wetter immer noch warm war. Meine Füße ließen sich leichter verstecken als meine Hände. Allerdings konnte ich sie nicht verbinden, weil man die Bandagen in meinen Schuhen gesehen hätte.
Ich wollte in aller Frühe das Haus verlassen, um zum Markt zu gehen. Meiner Mutter fiel natürlich sofort auf, dass etwas nicht stimmte.
»Was hast du, Mädchen?«
»Was meint Ihr, Mutter?«
»Es ist doch noch viel zu warm für Handschuhe.«
»Heute Morgen ist es recht frisch draußen.«
»Du humpelst ja. Hast du dich verletzt?«
Ich nahm meinen Korb und versuchte, an ihr vorbei zur Tür zu hasten, doch sie packte meinen Arm und hielt mich zurück. Ihre Finger gruben sich in das Fleisch meines Oberarms. Meine Mutter war eine zierliche Frau, aber sie verfügte über sehr viel Kraft.
»Zeig her!«
Mir blieb nichts anderes übrig, als die Handschuhe auszuziehen und die Wunden an meinen Händen zu enthüllen.
Meine Mutter wurde aschfahl. Dann blickte sie mir ins Gesicht, und ich erkannte die Angst in ihren Augen. »Woher hast du diese Wundmale?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sag die Wahrheit!«
»Ich weiß es nicht!«
Sie begann mich zu schlagen, wie es ihr Recht als Mutter war. Doch sie tat es widerwillig und weinte noch eher als ich.
»Hat dich jemand misshandelt? War das Sicard?«
»Sicard würde mir niemals wehtun!«
»Wer war es dann?«
Ich rollte mich in einer Ecke zusammen, um meinen Kopf vor weiteren Hieben zu schützen, wenngleich sie nur noch schwach auf mich niedergingen. Plötzlich hielt meine Mutter inne, bückte sich und streifte mir die Schuhe ab. Als sie die Wunden an meinen Füßen sah, schnappte sie nach Luft. Sie wusste offenbar, was dies bedeutete. Sie hatte geglaubt, dass das Wunder ein Segen für uns sein würde. Sie hatte sich geirrt.
SUBILLAIS
Der Provinzler war ein wenig einnehmender Mann. Seine Manieren und seine Kleidung zeigten deutlich seine übermäßige Vorliebe für weltliche Güter. Ich ließ ihn stehen, nicht um meinetwillen, sondern um ihn Demut zu lehren, von der er meiner Einschätzung nach zu wenig besaß. Doch er hatte behauptet, ein guter Christenmensch und Anhänger der Kirche zu sein. Er hatte um diese Audienz ersucht, weil er den Heiland hier im Süden des Landes verteidigen wollte.
Das Wetter war kalt geworden. Es ging auf den Winter zu, und die Scheite im Kamin reichten kaum aus, das Skriptorium an diesem dunklen Morgen zu erwärmen.
»Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?«, fragte ich.
»Mein Name ist Almaric, Euer Exzellenz, Almaric du Foix. Ich bin ein armer Müller aus Saint-Ybars.«
Seine hohe, schrille Stimme war nur schwer zu ertragen. Der Jagdhund, der vor dem Feuer lag, stellte die Ohren auf und knurrte. Ein armer Müller! Hätte das der Wahrheit entsprochen, wäre mir ein solcher gerade zum ersten Mal begegnet.
»Und was hat ein armer Müller zu berichten, das für die Heilige Inquisition hier in Toulouse von Interesse sein könnte?«
Er scharrte mit den Füßen und vermochte mir nicht in die Augen zu sehen. Ich war es natürlich gewohnt, dass man mich zu belügen versuchte, und hatte eine Nase dafür entwickelt.
»Euer Exzellenz haben gewiss schon von dem Wunder gehört – so nennt man es –, das in unserem bescheidenen Städtchen geschehen ist.«
Ach ja. Die Steinmetztochter, die in den Bergen über Saint-Ybars die Heilige Jungfrau gesehen hatte. Derartige Vorkommnisse beunruhigten uns, besonders, wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher