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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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praller, roter Trauben. Meine Zukunft lag vor mir wie ein brauner, steiniger, öder Acker, der sich weit in die Ferne erstreckt, bis zu dem Punkt, wo der Morgendunst auf den trostlosen Himmel trifft.
     
    *
     
    Erneut beobachtete ich, wie die Pilger sich auf den Weg hinauf zum Mont Berenger machten, und wünschte mir, es gäbe eine Möglichkeit, sie davon abzuhalten. Aber die Menschen glauben nun einmal an den Glauben.
    Dies war freilich ein gotteslästerlicher und vielleicht sogar ketzerischer Gedanke. Doch angesichts des Stroms von Stadtbewohnern und Leibeigenen, der sich aus den Toren ergoss und sich auf den Berg zubewegte, konnte ich unmöglich meine Zweifel und meine Verachtung unterdrücken. All diese Menschen hofften darauf, dass sie die Madonna sehen und ein Wunder erleben würden. Der Gedanke, dass sie in dieser Welt voller Sünde vollkommen allein dastanden, war zu schmerzlich für sie. Wenn es keinen Gott gibt, der Wunder vollbringt und die Fesseln des irdischen Daseins sprengt, dann erfinden wir eben einen – das liegt in unserer Natur.
    Aber warum ausgerechnet am Mont Berenger? Wusste das Mädchen über mein Geheimnis Bescheid? War das Ganze eine Art Spiel?
    Ich blickte abermals zum Stadttor hinüber. Die Reihe der Pilger war endlos: ein Krüppel, der auf seinen Händen lief, eine Familie auf einem Eselskarren, die Großmutter blind, eines der Kinder mit einem verkümmerten Bein, ein Mann, der seine blinde Frau führte. So viel Elend! Es war nur verständlich, dass diese Menschen sich an jede noch so kleine Hoffnung klammerten, an jede Aussicht, Gott nahe zu kommen.
    Natürlich würde für keinen von ihnen ein Wunder geschehen. Sie alle würden enttäuscht nach Hause zurückkehren. Oder vielleicht doch nicht? Wenn sich ein hysterisches Mädchen einredete, dass es die Madonna erblickt hatte, würden sich womöglich auch andere von dem strahlenden Licht täuschen lassen.
    Mein Bruder ritt kurz vor der Komplet in den Burghof hinein. Ich beobachtete, wie zwei Knappen größte Mühe hatten, sein Schlachtross in den Stall zu führen, einen riesigen weißen Hengst mit roten Augen und dampfenden Flanken. Die Ankunft eines Tempelherrn verursachte stets Unmut in der gesamten Burg. Einige glaubten, dass die Templer unter einem Zauber standen, andere hielten sie für Abgesandte des Teufels. Eine meiner Dienstmägde machte das Zeichen gegen den bösen Blick. Die Anwesenheit eines Templers in der Burg schreckte selbst die Söldner auf, die faul in der großen Halle herumlungerten.
    Vielleicht wisst Ihr nicht, dass die Ritter des Templerordens sich von anderen Männern unterschieden. Manche Menschen fanden sie widerwärtig, ausnahmslos alle jedoch fanden sie Furcht erregend. Sie lebten wie Mönche nach bestimmten Ordensregeln und legten ebenfalls Keuschheits- und Armutsgelübde ab. Wer dem Orden beitrat, musste ihm seinen gesamten Besitz übergeben. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Mönchen widmeten die Templer ihr Leben allerdings dem Krieg, und im Gegensatz zu gewöhnlichen Rittern hatten sie keine Möglichkeit, sich aus Schlachten freizukaufen, sondern kämpften bis zum Tod.
    Seitdem mein Bruder im Alter von sechzehn Jahren in den Orden eingetreten war, hatte ich ihn nur selten zu Gesicht bekommen. Er hatte die vergangenen sieben Jahre damit zugebracht, in Outremer gegen die Sarazenen zu kämpfen, und war erst vor kurzem zurückgekehrt. Man hatte ihn gerade zum Komtur im nahe gelegenen Maurac ernannt.
    Er kam in die Kapelle und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Er hatte noch nie einen Raum leise betreten können. Zwei Tage zuvor hatte ich nach ihm geschickt und dem Boten eingeschärft, ausdrücklich auf die Dringlichkeit meiner Bitte hinzuweisen. Und mein Bruder hatte mich zwei Tage lang warten lassen.
    Er war ein Mann wie ein Bär, und sein Gang verriet, dass er einen großen Teil seiner Zeit im Sattel verbrachte. Seine Stiefel waren dreckverkrustet, an den Spitzen der schweren Sporen klebte Blut. Mein kleiner Bruder …
    Seit seiner Heimkehr aus dem Heiligen Land waren wir uns nur einmal begegnet, und ich konnte in ihm kaum noch den Knaben erkennen, mit dem ich hier in dieser Burg aufgewachsen war. Wie es die Templerregeln vorschrieben, trug er das Haar kurzgeschoren, damit es in der Schlacht nicht seine Sicht behinderte, und er hatte seinen Bart wachsen lassen. Auch ohne das Kreuz auf seinem Umhang war er mühelos als ein Mitglied der Kreuzritter zu erkennen. Adlige wie mein Gatte trugen ihr Haar länger

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