Die Novizin
etwas und ging davon.
Wenig später kehrte er mit kalkweißem Gesicht zurück und bat uns, mitzukommen und zu bezeugen, was er gefunden hatte.
Ein Schwarm von Fliegen tanzte in der Luft über zwei Männerleichen, die meiner Einschätzung nach noch keine Woche dort lagen. Die Haltung ihrer Körper war unnatürlich, ihre Gliedmaßen waren verdreht, und auf ihren Bäuchen wimmelte es von Maden. Eine der Leichen trug noch Stiefel an den Füßen, ansonsten waren beide nackt. Sie waren enthauptet worden, und von ihren Köpfen fehlte jede Spur.
»Das können nur Räuber gewesen sein«, bemerkte der Seneschall.
Mitten im Wald stellten zwei unbewaffnete Bauern leichte Beute für Räuber dar. Aber irgendetwas an dieser Erklärung wollte mir nicht einleuchten. Was hatten die beiden Männer so weit ab vom Pfad zu suchen gehabt? Ich blickte mich um. In einiger Entfernung erspähte ich zwischen den Bäumen die Felsen über dem Teich der Madonna, wo das Mädchen Madeleine seine Vision gehabt hatte. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
»Dieser Mann da trägt ein gutes Paar Stiefel«, warf ich ein. »Hätten Räuber die nicht ebenfalls mitgenommen?«
Der Seneschall zuckte die Achseln, dann tauschten er und Raymond einen Blick. Mein Einwand hatte keine Bedeutung. Ich wusste genau, was sie dachten: Nur eine Frau war fähig, eine dermaßen einfache Angelegenheit kompliziert zu machen.
Wir verfielen in Schweigen. Die Pferde scharrten mit den Hufen, und die Maden in den Eingeweiden der Toten wanden und krümmten sich.
»Wir werden Erkundigungen einziehen und herausfinden, ob jemand aus der Stadt vermisst wird«, sagte Raymond schließlich.
»Was ist mit den Leichen?«, fragte ich ihn. »Was soll mit ihnen geschehen?«
Er wendete seinen Fuchs. »Ich mache mir eher Gedanken darüber, was mit meinem Wildschwein geschehen soll.«
Nun war es also sein Wildschwein.
Während er davonritt, hatte ich das Gefühl, als würde ich beobachtet. Doch das konnte auch eine Einbildung sein. Der Verwesungsgeruch der Leichen verursachte mir Übelkeit. Ich saß wieder auf und folgte Raymond aus dem Dickicht.
*
An Allerheiligen fanden wir uns wie alle anderen Einwohner von Saint-Ybars und Umgebung in der Kirche ein. Der Klerus erachtete es mittlerweile als notwendig, dass die Gläubigen an sämtlichen Sonn- und Feiertagen in die Kirche gingen. Während der Feiertagsgottesdienste wurde unser Reliquienschrein ausgestellt, und es wurden besondere Gebete gesprochen. Saint-Ybars besaß keine berühmte Reliquie, lediglich ein Stück vom Zehenknochen des Heiligen Blasius, doch sein Erwerb hatte den Großvater des letzten Seigneurs eine beträchtliche Summe gekostet. Er hatte ihn nach einem der Kreuzzüge auf der Heimreise einer Kirche in Konstantinopel abgekauft, und die Stadtbevölkerung brachte dieser Reliquie eine solch große Verehrung entgegen, als handele es sich um einen Splitter vom Kreuz unseres Herrn.
Ihr müsst die Bedeutung derartiger Reliquien verstehen. Ein solches Wunder lockte einen stetigen Strom von Pilgern an, die alle Obdach und Nahrung benötigten und ein Andenken an ihre heilige Reise zu kaufen wünschten. Eine berühmte Reliquie konnte also für das wirtschaftliche Überleben einer Stadt ebenso wichtig sein wie ein natürlicher Hafen oder das Aufeinandertreffen zweier Flüsse.
Das alte Byzanz hatte einen Großteil seines Reichtums seinen sagenhaften Reliquien zu verdanken. Es rühmte sich einstmals der Muttermilch der Heiligen Jungfrau, des Hauptes des Heiligen Petrus, des Heiligen Paulus sowie des Heiligen Johannes des Täufers, der Zähne des Heiligen Christophorus, eines Fingers des Heiligen Michael, des Fußes des Heiligen Thomas, der Lanze, mit der man die Seite unseres Erlösers durchbohrt hatte, und des Hammers sowie der Säge, mit denen das Kreuz angefertigt worden war. Des Weiteren konnte man die Axt bestaunen, die Noah beim Bau der Arche benutzt hatte, außerdem die Trompete Josuas und ein kleines Stück jenes Mannas, von dem sich die umherziehenden Stämme Israels ernährt hatten.
Nachdem Byzanz eingenommen und geplündert worden war, hatten viele dieser Reliquien ihren Weg in die christlichen Länder gefunden. Dort wurden mit dem Geld, das sie einbrachten, Kirchen und Kathedralen errichtet. In Sens verwahrte man ein Fragment von Moses Stab, in Saint-Julien in Anjou einen von Christus’ Schuhen. Nur ein einziger Blick auf eine dieser Reliquien konnte dem Gläubigen tausend Jahre im Fegefeuer ersparen, da
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