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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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ihm ein Nachlass seiner Sünden gewiss war.
    Falls Ihr Euch nun wundert, vergesst nicht, dass Heiligkeit ein Handelsgut war, das gekauft und verkauft wurde wie Gerste oder Weizen. War zum Beispiel jemand nicht willens, Monate oder gar Jahre fern von seinen Geschäften und seiner Familie zu verbringen, konnte er gegen eine sehr ansehnliche Gebühr einen Berufspilger engagieren, der die Reise an seiner Stelle antrat und in seinem Namen Heiligkeit anhäufte.
    Unserem Stück Zehenknochen waren in den vergangenen Jahren viele Wunderheilungen zugeschrieben worden. Aus diesem Grund machten auch oft Pilger in der Stadt Station. Doch ich hatte gehört, dass die Pilger seit einigen Wochen unsere Kirche unbeachtet ließen und stattdessen zum Teich der Madonna wanderten. Père Michel hatte sich bereits beim Bischof beklagt, dass seine Finanzen knapper wurden.
    An jenem Morgen von Allerheiligen wollten wir herausfinden, ob die Anziehungskraft unseres Heiligenzehs durch die Visionen einer Madeleine de Peyrolles beeinträchtigt wurde – je nachdem, wie die Gemeinde die Darbietung der Reliquie aufnahm.
    Raymond und ich betraten das nördliche Querschiff. In unserer Kirche spiegelte sich die Ordnung des weltlichen Lebens in Saint-Ybars, denn für uns sowie unser Gefolge waren Plätze ganz vorn reserviert. Hinter uns saßen die wichtigsten Bürger der Stadt – Maurand, der Müller, der Karrenmacher und der Steinmetz, jeweils mit ihren Familien. Die freigelassenen Sklaven und die Armen standen auf dem kalten Boden im Hauptschiff, zitterten in ihren dünnen Wollumhängen und traten in ihren Holzschuhen von einem Fuß auf den anderen.
    Natürlich liebt Gott alle Menschen, doch die Kirche ist der Ansicht, dass er es vorzieht, nicht mit solchen von niederer Geburt in Berührung zu kommen.
    Mir war aufgefallen, dass Maurand sich an Feiertagen so prächtig kleidete wie möglich und ganz unverhohlen mit uns konkurrierte. Ich konnte nicht behaupten, dass es mir gefiel, wie sich die Zeiten seit meiner Kindheit geändert hatten. Aber ich musste wohl lernen, mit Emporkömmlingen wie Maurand zu leben. Es hieß, dass die Protzerei und Missachtung der Kleiderordnung in Paris bereits skandalöse Ausmaße angenommen hatte.
    Die vom Regen feuchten Lumpen der Bauern verströmten im Inneren der Kirche eine derart schlechte Luft, dass man kaum atmen konnte. Ich bemühte mich, nicht ohnmächtig zu werden, und schenkte dem unverständlichen lateinischen Gemurmel des Priesters nur so viel Aufmerksamkeit, wie ich an einem heißen Sommertag dem Summen von Insekten widmete. Des Priesters Ausführungen waren lediglich eins der Geräusche im allgemeinen Tumult. Einige Straßenhändler im hinteren Teil des Hauptschiffs hatten ihre Hunde mitgebracht. Und die Frau des Müllers tratschte mit ihrer Sitznachbarin, als befände sie sich auf dem Marktplatz.
    Viele der jungen Männer gingen nur in die Kirche, damit sie ungestört die jungen Mädchen anstarren konnten. Sie schlenderten umher, machten den Töchtern des Schneiders schöne Augen und berieten sich untereinander. Die meisten Blicke erntete jedoch Madeleine de Peyrolles mit ihrem flammend roten Haar. Für die Burschen bestand allerdings wenig Aussicht, denn ich hatte gehört, dass Maurand das Mädchen heiraten wollte.
    Plötzlich verstummte die Menge. Ich wandte den Kopf und entdeckte zu meiner Verwunderung Christian, der durch den Narthex an der Westseite schritt. »Ein Bär von Mann, nicht nur dem Aussehen, sondern auch dem Geruch nach«, hatte Raymond einmal in meiner Gegenwart gescherzt. Christian hielt sich strikt an die Templervorschrift, niemals zu baden, und trug seine Schmutzschicht wie ein Büßer oder Einsiedler sein härenes Gewand. Viele Templer hatten sich während ihrer Zeit in Outremer angewöhnt, täglich zu baden, doch Männer wie Christian verurteilten jede Lockerung der Ordensregel.
    Er war schon als kleiner Junge ein Rüpel und Tyrann gewesen und hatte sich überhaupt nicht verändert. Als ich zehn Jahre alt gewesen war und er acht, hatten sich unsere Wege getrennt. Ich war Hofdame bei einer Base des Grafen von Foix geworden, er Knappe am Hof des Raymond von Toulouse.
    Im Halbdunkel der Kirche stach das blutrote, leuchtende Kreuz auf seinem Gewand hervor. Sein nasser Umhang dampfte und stank ebenso widerwärtig wie die Lumpen der Bauern.
    Ich fragte mich, warum er hier war. Üblicherweise nahm er gemeinsam mit seinen Templerbrüdern an der Messe in der Komturei teil. Einen Moment lang

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