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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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Auslegung der Heiligen Schrift.
    Ich musste oft an Sicard denken. An sein Gesicht an jenem Tag, als ich die Stadt verließ, an den Schmerz in seinen Augen. Die Wendung, die mein Schicksal genommen hatte, bestürzte ihn ebenso wie mich. Dennoch versuchte ich, das Beste aus meiner Lage zu machen. Ich bemühte mich, mein tägliches Leben und meine Gedanken Gott zu widmen. Aber ich war nun einmal eine Frau, und Frauen sind wankelmütige Geschöpfe voller fleischlicher Begierden, wie wir alle wissen.
    Ich gestehe, dass mir die sonntäglichen Spaziergänge fehlten, Sicards ungeschickte Küsse, seine rauen Steinmetzhände auf meinem Körper. Ich vermisste das beruhigende Gefühl, ihn an meiner Seite zu haben, ebenso wie die unerschütterliche Geduld, mit der er mir immer zugehört hatte. Hier im Kloster gab es niemanden, mit dem ich schwatzen konnte, und nachts wälzte ich mich auf meinem Lager und sehnte mich nach seinen starken Armen.
    Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mir so sehr fehlen würde. Er war der Fels, auf den ich gebaut hatte. Ohne ihn war ich verloren.
    Doch meine Seele, obgleich einsam und ohne Liebe, war für Gott gerettet. Denn im Kloster gab es keine Sünde – es war uns gar nicht möglich, zu sündigen. Hier blieb kein Raum für Eitelkeit, Wollust oder Habgier. Dazu froren wir alle zu sehr und waren viel zu erschöpft und hungrig.
     
    *
     
    In der Abtei gab es eine Nonne, die mir wahrhaft Angst einjagte. Sie hieß Schwester Agnes und war regelrecht verrückt. Sie war die Cellerarin, die Wirtschafterin des Klosters, und hatte diese Stellung schon beinahe ihr ganzes Leben lang inne. Sie war eine Waise – so wurde zumindest behauptet – und als kleines Mädchen von der Äbtissin aufgenommen worden. Ich möchte keinesfalls respektlos erscheinen, aber Schwester Agnes war die hässlichste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Darin lag zweifellos auch der Grund dafür, dass ihre Eltern sie ausgesetzt hatten. Ich nahm an, dass ihr verwachsener Kopf von einer schweren Geburt herrührte. Und nun, im Alter, begann ihr deutlich sichtbar ein Bart zu wachsen.
    An meinem ersten Tag im Konvent nahm mich die Äbtissin beiseite und sagte: »Unsere Cellerarin kann Hilfe gebrauchen. Folge mir!«
    Die Kapelle, das Dormitorium, die Küche und das Refektorium waren um einen offenen Kreuzgang herum angeordnet. Der Keller befand sich unter dem Dormitorium und wirkte wie eine düstere Höhle. Die Luft jedoch war kühl und trocken und roch würzig nach Hopfen, alten Äpfeln, getrockneten Kräutern und Käse. Ich erinnere mich, dass fette Schmeißfliegen über dem langen Tisch kreisten und über das Leinentuch krochen, mit dem eine Schüssel noch warmer Ziegenmilch abgedeckt war.
    Ich entsinne mich auch an meinen ersten Blick auf Schwester Agnes, an ihr groteskes, missgebildetes Gesicht, das vom Schleier umrahmt wurde. Ich musste einen Aufschrei unterdrücken. Sie sah aus wie ein Monstrum im Gewand eines Engels. Sie war groß wie ein Mann und hatte ebenso breite Schultern wie mein Vater. Sie stand am Tisch, zählte Knoblauchknollen und sprach dabei mit dem Gemüse, als handele es sich um vernunftbegabte Wesen. Zuweilen lachte sie, als habe eine der Knollen einen Scherz gemacht.
    Dieses merkwürdige Benehmen schien die Äbtissin nicht weiter zu beunruhigen.
    »Dies ist Schwester Agnes«, wandte sie sich an mich. »Agnes, dies ist Schwester Madeleine, eine der Novizinnen. Sie ist deine neue Gehilfin.«
    Agnes sah auf. Schlagartig verschwand das seltsame Lächeln, das ihre Mundwinkel verzerrt hatte. Sie ließ den Knoblauch zu Boden fallen und starrte mich mit vor Schreck geweiteten Augen an. Dann wich sie langsam zurück.
    »Agnes?«, sagte die Äbtissin.
    Schwester Agnes begann zu kreischen.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Diese grässliche Nonne gaffte mich an und zeigte mit dem Finger auf mich, als sei ich von uns beiden die Missgestaltete.
    »Agnes, hör auf damit!«, befahl die Äbtissin, doch die Schwester gehorchte nicht, sondern versteckte sich in der Ecke des Raumes unter einer Bank. Ein Bach von Urin drang unter ihrem Gewand hervor.
    Die Äbtissin fasste mich an den Schultern und schob mich zur Tür hinaus. »Warte draußen auf mich!«, sagte sie.
     
    *
     
    Was hatte ich getan?
    Ich wartete zitternd im Kreuzgang, die Hände zu Fäusten geballt. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ehe die Äbtissin zu mir trat. Sie wirkte ruhig, aber ihre Miene verriet mir, wie bestürzt sie über das Geschehene war.
    »Es

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