Die Novizin
Prim, die mich geweckt hatte, sondern das Geräusch von Schreien und Gelächter im Kreuzgang. Ich lief zum Fenster und öffnete vorsichtig den Laden. Trotz der Dunkelheit konnte ich Schwester Agnes erkennen. Sie rannte über das eiskalte Kopfsteinpflaster, hob immer wieder ihre Röcke, streckte ihre Scham der Statue der Heiligen Jungfrau entgegen und rieb sie mit beiden Händen, auf eine Art, die selbst die niederste Dirne hätte erröten lassen.
Kurz darauf eilte die Äbtissin herbei, gefolgt von der Sakristanin und der Pförtnerin. Sie hüllten Agnes in einen Umhang und zogen sie fort. Der Vorfall kam mir dermaßen unglaublich und beängstigend vor, dass ich ihn für einen meiner seltsamen Träume gehalten hätte, wenn ich während der Prim nicht zwei andere Novizinnen hinter vorgehaltener Hand darüber hätte flüstern hören.
Den Gesprächsfetzen nach zu urteilen hatte Schwester Agnes sich nicht zum ersten Mal auf diese Weise dem Wind und Wetter wie auch der Kritik ausgesetzt. Aber bei der Versammlung im Kapitelsaal wurde das nächtliche Geschehen mit keiner Silbe erwähnt. Wahrscheinlich waren die Äbtissin und die älteren Nonnen an diese Anfälle von Wahnsinn gewöhnt und duldeten sie aus einem tiefen Gefühl der Barmherzigkeit heraus. Nichtsdestotrotz mussten sie Schwester Agnes’ Lüsternheit als große Schande und Beleidigung empfinden.
Doch abgesehen von diesen Anwandlungen, welche zumeist auf Vollmondnächte beschränkt blieben, erfüllte Schwester Agnes ihre Pflichten so sorgfältig, wie es einer Idiotin möglich war.
*
Meine eigene Bürde war mir ins Kloster gefolgt. Die Kopfschmerzen, unter denen ich seit meiner Vision von der Madonna am Teich litt, traten nun häufiger auf und wurden zunehmend heftiger. Oftmals begann es mit einem üblen Geschmack im Mund, als hätte ich Kreide gegessen. Dann verspürte ich Schmerzen hinter meinen Augen und war gezwungen, sie vom Licht abzuwenden. Kurze Zeit darauf wurde mir jegliche Bewegung des Kopfes zur Qual. Nur wenn ich bei geschlossenen Fensterläden ruhig auf meiner Pritsche liegen blieb, ließen die Schmerzen ein wenig nach. Doch das gestattete die Äbtissin nicht, da sie mich für eine Simulantin hielt.
Sie sagte, dass wir alle für und mit Christus litten.
Bisweilen litt ich an Erinnerungsverlust. Ich erzählte niemandem davon, aus demselben Grund, aus dem ich auch nicht über meine Visionen sprach.
Der Wahnsinn schien sich immer weiter in mir auszubreiten. Ich fragte mich, ob vielleicht der Teufel in mir steckte, denn ich wusste, dass er eine menschliche Seele in Besitz nehmen konnte. Vermutlich hatten meine Mutter und mein Vater recht daran getan, mich fortzuschicken.
*
Der Winter hatte begonnen. Die Nonnen verbrachten nun weniger Zeit auf dem Feld und dafür zusätzliche Stunden in der Kapelle, wo wir unsere Psalmen hersagten, das Responsorium sangen oder uns ins Gebet vertieften. Es war an einem jener grauen Nachmittage, dass Unsere Liebe Frau mir erneut erschien.
Die Statue der Heiligen Jungfrau wachte in einer Nische in der südlichen Wand der Kapelle über uns. Sie trug das rote Oberkleid und den blauen Umhang der Königin des Himmels und erhob eine Hand zum Segen. Allein ihr Anblick löste in mir ein Gefühl der Ruhe und des Friedens aus, und in meinen Gebeten richtete ich oft meine gesamte Aufmerksamkeit ausschließlich auf sie.
Plötzlich sah ich ihren Körper durch die Luft schweben. Ich stieß ein ersticktes Keuchen aus und griff nach der Bank vor mir, im festen Glauben, dass die Kapelle jeden Moment einstürzen würde. Klebriger Schweiß bedeckte meinen Leib, und mein Magen krampfte sich zusammen. Ich musste meine Augen schließen.
Als ich sie wieder öffnete, bedeutete mir die Jungfrau mit einem Winken, näher zu treten. Ich konnte ihre Gestalt so deutlich erkennen, als sei sie aus Fleisch und Blut. Sie hatte ein flächiges, gebräuntes Gesicht und Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Erneut winkte sie mir zu, als werde sie langsam ungeduldig.
Ich drehte mich zu meinen Mitnovizinnen um und hoffte – ohne es wirklich zu erwarten –, dass sie dasselbe gesehen hatten wie ich. Aber sie alle waren mit geschlossenen Augen in stumme Andacht versunken.
Ihr wollt wissen, warum ich den Drang verspürte, vor ihr zu fliehen? Weil ich wusste, dass sie nicht wirklich dort war, und weil mein eigener Irrsinn mir fürchterliche Angst einjagte. Ich sprang auf die Füße, in der Absicht, aus der Kapelle zu stürzen. Die Rufe der
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