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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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wie die Äbtissin, die Sakristanin und die inzwischen herbeigeeilte Priorin Schwester Agnes gemeinsam in den Keller schleiften. Ich hastete durch den Kreuzgang und folgte ihnen unbemerkt.
    Sobald ich die schwere Kellertür hinter mir geschlossen hatte, drang das Sturmgetöse nur noch gedämpft an meine Ohren. Dafür hörte ich die drei Nonnen vor Anstrengung keuchen. Die Priorin hielt eine Schüssel mit Öl in der Hand, in der ein Docht schwaches Licht verbreitete. Agnes lag schlaff zu ihren Füßen, umgeben von einer immer größer werdenden Wasserlache. Ihre Nacktheit bestürzte mich. Ihr Leib – bitte verzeiht meine Worte – war bleich wie Schweinefleisch und ebenso unförmig. Ihr kurz geschorenes Haar war beinahe vollständig ergraut, was sie viel älter aussehen ließ, als ich geschätzt hatte. Doch was meinen Blick unweigerlich anzog, war das Mal auf ihrer Brust – wulstiges Narbengewebe, das ein vollkommenes Kruzifix bildete.
    Die Äbtissin starrte mich an. Sie hatte während des Kampfes ihren Schleier verloren. Ihr kastanienbraunes, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar klebte nass an ihrem Kopf. Der Nimbus von Unantastbarkeit, der sie stets umgeben hatte, war dahin, nicht jedoch ihre Autorität.
    »Was tust du hier, Schwester Madeleine?«
    Ich brachte keinen Ton heraus.
    »Hinaus!«, befahl sie.
    Wieder lief ich durch den Kreuzgang, der mittlerweile eher einem See glich, und zurück in meine Zelle. In jener Nacht tat ich kein Auge zu – und das nicht nur wegen des feuchten Strohs auf meinem Lager. Wie hätte ich schlafen können, nachdem ich gerade Zeugin dieser schauerlichen Szene geworden war? Selbst nach dem das Unwetter stand ich immer noch zitternd an meinem Fenster und beobachtete die Blitze über der schwarzen Silhouette der Berge am Horizont.
    Der Donner entfernte sich. Der Gefürchtete hatte sein Zeichen hinterlassen und zog sich zurück.
     
    *
     
    Am folgenden Morgen zeigte sich der Himmel blassblau und wolkenlos. Der Sturm der vergangenen Nacht schien nichts weiter als ein Traum gewesen zu sein. Allein die zarte Schicht Pulverschnee, die die Landschaft überzog, erinnerte an den Wetterumschwung.
    Die Äbtissin traf mich in der Kapelle beim Gebet. »Du siehst blass aus, und dein Habit ist feucht. Du solltest in die Küche gehen und dich am Feuer wärmen, bevor die Feuchtigkeit dir noch in die Glieder fährt.«
    Gehorsam erhob ich mich.
    »Falls du uns jemals verlässt, Schwester Madeleine, wäre ich dir dankbar, wenn du niemandem erzählen würdest, was du in der letzten Nacht gesehen hast.«
    Die Neugier machte mich kühn. »Die Narbe … woher hat sie die Narbe?«
    Ich rechnete nicht damit, dass die Äbtissin meine Frage beantworten würde, doch sie sagte: »Es ist viele Jahre her, da tobte hier ein ebenso schwerer Sturm wie gestern Nacht. Schwester Agnes befand sich gerade auf dem Rückweg vom Weinberg. Sie wurde vom Blitz getroffen und blieb bewusstlos auf einem Feld liegen. Als wir sie fanden, hielten wir sie zuerst für tot. Wir brachten sie zurück ins Kloster und entdeckten dort, dass ihr Metallkruzifix in ihre Brust eingebrannt war.«
    Die Äbtissin befingerte gedankenverloren das Kreuz an ihrem Hals.
    »Bis zu jenem Tag war Schwester Agnes ein Mensch wie du und ich gewesen. Ihr Äußeres war freilich schon immer merkwürdig, aber vor dem Blitzschlag führte sie bei der Arbeit keine Selbstgespräche, sah keine Dämonen und benahm sich auch nicht so wie in der vergangenen Nacht. Gott hat sie an jenem Tag auserwählt, doch ich weiß nicht, zu welchem Zweck.«
    »Und wie geht es ihr heute Morgen?«
    »Sie schläft noch. Wenn sie aufwacht, wird sie sich ihren Aufgaben widmen, als sei nichts geschehen. Dies war nicht das erste Mal. Und nun lauf in die Küche!«
    Ich tat, wie mir geheißen, doch ich dachte den ganzen Tag lang über die Worte der Äbtissin nach. Ich fragte mich, ob die übrige Welt ihre Ansicht teilen würde, dass die arme Agnes von der Hand Gottes berührt worden war. Womöglich wäre so mancher eher der Meinung, dass es sich um die Hand eines weniger gütigen Wesens gehandelt hatte. Nun begriff ich, warum die Äbtissin nicht wünschte, dass jemand außerhalb dieser schweigenden und heiligen Mauern über Agnes sprach.

ELEONORE
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