Die Novizin
Inhaber der Pfarrstelle aus den Mitgliedern seines eigenen Haushalts aus, um sicherzustellen, dass er nicht hintergangen wurde.
Dies war auch der Grund, warum mein Vetter Guillaume momentan das Amt des Priesters von Redaux bekleidete und somit von der Verarmung erlöst war, in die ihn die Habgier des Königs gestürzt hatte.
Nichtsdestotrotz war sein Lebensunterhalt keineswegs gesichert, denn das Einkommen eines Geistlichen hing von der Größe seiner Herde ab. Wie alle Priester verlangte er für all seine Dienste Gebühren, von der Segnung eines Feldes oder Brautbettes bis hin zum Spenden der Sakramente. Mir war zu Ohren gekommen, dass er einmal sogar das Bettzeug eines sterbenden Mannes mitgenommen hatte, weil dieser die Letzte Ölung nicht anderweitig bezahlen konnte.
In seinem schmutzigen braunen Gewand und den Holzschuhen sah Guillaume aus wie ein Bauer. Seine braunen Augen lagen tief in ihren Höhlen und blickten stets hungrig. Er verhielt sich betont zurückhaltend, und die Gesellschaft anderer Menschen schien für ihn unerfreulich, ja geradezu schmerzhaft zu sein. Er erinnerte mich daher an ein Insekt, das in immerwährender Dunkelheit lebt und panisch davon krabbelt, wenn es plötzlich dem Tageslicht ausgesetzt wird.
Obwohl er sich normalerweise nur äußerst selten aus Redaux fort wagte, hatte er nun die Reise nach Saint-Ybars auf sich genommen und um eine private Unterredung mit mir gebeten. Mir war klar, dass er mir etwas besonders Wichtiges zu sagen hatte.
Ich empfing ihn in meinen Gemächern. Er schritt sofort nervös auf und ab und blickte mir dabei nicht ein einziges Mal in die Augen.
»Es ist schön, Euch zu sehen, Guillaume«, begrüßte ich ihn.
»Ihr müsst mit Eurem Bruder reden!«
»Ihr seid wohlauf, wie ich feststelle.«
»Überzeugt ihn davon, dass wir eine Kopie unseres Stammbaums anfertigen müssen!«
»Danke, ich bin ebenfalls wohlauf.«
»Was?« Er sah mich verwirrt an und hatte meine ironischen Worte offenbar nicht verstanden. »Was habt Ihr gesagt?«
»In der Komturei ist der Stammbaum sicher. Sicherer als irgendwo sonst.«
»Die Komturei ist nicht uneinnehmbar.«
»Darin könntet Ihr Euch irren.«
»Es gibt keinen Platz auf der Welt, der uneinnehmbar ist. Ihr fordert das Schicksal geradezu heraus, wenn Ihr von einem so bedeutenden Dokument keine Abschrift macht und sie an einem zweiten Ort hinterlegt.«
»Christian ist da anderer Meinung.«
»Und was ist, wenn Euer Bruder plötzlich sterben sollte? Dann wäre der Stammbaum für immer außer Reichweite. Seine Arroganz ist wirklich unerträglich! Er ignoriert völlig, dass auch wir dieser Linie der Familie angehören.«
»Ich bin ganz Eurer Meinung – er ist unerträglich. Aber was schlagt Ihr vor, was wir tun sollen? Habt Ihr es denn jemals vermocht, ihn auf irgendeine Weise zu beeinflussen?« Nicht zum ersten Mal dachte ich über die Last nach, die unser Familiengeheimnis für uns bedeutete. Was war aus unserem königlichen Blut geworden? Ein einsiedlerischer Mönch, ein mörderischer Tyrann, ein unfruchtbarer Leib …
»Unsere Familie benötigt Nachkommen«, warf mein Vetter ein.
»Was ist mit Euch? Ihr könntet die Priesterschaft verlassen.«
»Ich bin ein Faidit. Was würde mir ein Nachkomme nutzen? Ich könnte ihm weder Titel noch Land vererben.«
»Unsere Vorfahren besaßen ebenfalls weder Titel noch Land.«
»Aber unsere Vorfahren sind heilig! Daraus ergeben sich Ansprüche für unsere Familie, die einer unserer Nachkommen vielleicht eines Tages geltend machen kann. Also ist der Stammbaum von größter Wichtigkeit. Sprecht mit Eurem Bruder, Eleonore! Er wird Euch Gehör schenken. Überredet ihn, mir das Original auszuhändigen, damit ich eine Kopie anfertigen kann! Es ist wirklich wichtig!«
Ich seufzte und erklärte mich einverstanden. Manchmal überkamen mich starke Zweifel, ob der Stammbaum tatsächlich von solch immenser Bedeutung war. Mein Bruder und mein Vetter hätten diese Gedanken gewiss aufs Schärfste verurteilt. Ich lag die ganze Nacht lang wach und grübelte über Guillaumes Worte. Ich würde wie versprochen mit Christian über die Sache reden.
Aber der Inquisitor aus Toulouse sollte vorerst ein dringlicheres Problem darstellen.
*
Es gibt Jahre, in denen der Winter nahezu unbemerkt vonstatten geht. Langsam kriecht dann der Frost in alle Ritzen. In der vergangenen Nacht jedoch stürmte er plötzlich herbei, mit einem heftigen Gewitter, das die gesamte Welt zu erschüttern schien.
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