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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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nie, warum er so viele Jahre als Geselle arbeiten musste, ehe er Meister werden konnte, oder wieso er ein untadeliges Leben führen musste, um die himmlische Glückseligkeit zu erlangen.
    Nichtsdestotrotz würde ich vielleicht doch einen Grund finden, ihn der Häresie anzuklagen. Eines der Bücher, die wir Inquisitoren überallhin mitnahmen, war das Directorium , das Raimund von Penafort verfasst hatte. In diesem Werk macht Raimund deutlich, dass keineswegs nur die Ketzer selbst gefasst und dazu gebracht werden müssen, ihren Irrlehren abzuschwören. Vielmehr zählt er vier weitere Gruppen von Schuldigen auf: die »Verschweiger«, die Häretiker kennen, sie jedoch nicht melden, die »Verberger«, die einen Pakt mit den Ketzern schließen und sie vor der Obrigkeit verstecken, die »Empfänger«, die Häretikern Einlass in ihre Häuser gewähren, und schließlich die »Verteidiger«, die wissen, dass jemand der Häresie schuldig ist und ihn dennoch gegen die Obrigkeit verteidigen.
    Falls Sicard Paylaurens wusste, dass Madeleine de Peyrolles eine Häretikerin war, konnte er zu jeder der vier Gruppen gehören.
    »Wann habt Ihr zuletzt die Heilige Messe besucht?«, fragte ich ihn.
    »Am vergangenen Sonntag, hier in der Kirche von Saint-Ybars.«
    »Ihr nehmt regelmäßig am Gottesdienst teil?«
    »Jawohl, und ich bin ein guter Christ. Ich bin der Kirche sehr zugetan.«
    »Kennt Ihr Madeleine de Peyrolles?«
    »Ich kenne sie, sie ist eine gute und treue Christin.«
    Eine kluge Antwort, die er gewiss einstudiert hatte.
    »Es heißt, Ihr hättet mit ihr Unzucht getrieben.«
    »Sie ist meine Frau!«
    »Eure Frau? Seid Ihr mit ihr vor den Altar getreten?«
    Sicard blickte zu Boden. »Nein.«
    »Nein«, wiederholte ich und schwieg dann lange, um ihn zu quälen. »Warum nicht?«
    »Ich gehe noch immer bei ihrem Vater in die Lehre. Ich kann noch nicht für eine Ehefrau aufkommen.«
    »Dann handelt es sich also um Unzucht.«
    »Wir haben nur einmal beieinander gelegen. Sie hat dem Priester ihre Sünden gebeichtet und nichts getan, was die Heilige Inquisition beunruhigen könnte. Sie hat weder zu mir noch zu anderen jemals etwas Ketzerisches gesagt, und sie ist eine gläubige, treue Anhängerin der katholischen Kirche.«
    »Denkt sorgfältig über Eure Worte nach, Sicard Paylaurens! Falls Ihr als Verschweiger entlarvt werdet, wird man Euch gemeinsam mit Madeleine anklagen.«
    »Dann sei es so!«, erwiderte er und starrte mich zornig und beinahe herausfordernd an.
    Ich warf Pons einen Blick zu. Sicard Paylaurens waren leichtsinnige, unvorsichtige Worte. Ich zögerte. Da ich ein Mann bin, der seine eigenen Beweggründe ebenso gründlich prüft wie die anderer Menschen, war mir bewusst, dass es bei meiner Auseinandersetzung mit Sicard Paylaurens nicht um Häresie, sondern um Eifersucht ging.
    Dies hätte ich natürlich niemandem verraten, selbst wenn man mich mit glühenden Eisen gemartert hätte. Aber in meinem Inneren kannte ich die Wahrheit. Ich konnte Madeleine de Peyrolles nicht für mich haben, doch das Wissen, dass er nun ihre Zuneigung besaß, wucherte in mir wie ein Geschwür. Ich hatte mit ganzer Kraft versucht, Gott treu zu sein, dennoch übermannte mich jetzt die Eifersucht und ich verspürte das wahnsinnige Verlangen, ihren Liebhaber tot zu sehen.
    Und das Entsetzlichste war, dass es in meiner Macht stand, dies zu erreichen.
    Wie war es möglich, dass ich immer noch eine niedrige und erniedrigende Leidenschaft für diese Frau empfand? Sie hatte mich zu einer Sünde verleitet, einer Sünde mit solch verheerenden Folgen für meine Seele und meine Beziehung zu Gott, dass ich mich über das geforderte Maß hinaus darum bemüht hatte, für sie zu sühnen. Warum also kehrte ich zu derjenigen zurück, die meine Demütigung verursacht hatte – wie ein Hund zu seinem Erbrochenen?
    Ich kannte viele Priester und selbst einige Mönche, die unfähig gewesen waren, ihr Keuschheitsgelübde einzuhalten. Ich verachtete diese Männer, denn ich wusste, dass es unmöglich war, gleichzeitig Gott und eine Frau zu lieben. Gott war es, den ich mehr als alles andere fürchtete und nach dem mich verlangte. Warum begehrte ich nach allem, was ich erduldet hatte, dennoch etwas, das mir untersagt war?
    Ich hatte lange Zeit in Schweigen verharrt, ein Gefangener meiner Selbstbeobachtung. Nun bemerkte ich, dass alle mich neugierig anstarrten – Sicard, Pons, Père Michel. Ich schüttelte die Starre von mir ab und fragte Sicard: »Seit wann kennt Ihr

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