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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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hierher geflüchtet hatte. Hatte er geglaubt, in der Kirche Schutz zu finden?
    Oder gab es womöglich einen anderen Grund?
    Vielleicht hatte er hier irgendetwas verstecken wollen. Es machte allerdings wenig Sinn zu raten, was ein einfacher Priester besessen haben könnte, das sein Mörder offenbar für wertvoll gehalten hatte. Es war weitaus vernünftiger, sich Gedanken um das mögliche Versteck zu machen. Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die nackten Wände und den Boden schweifen.
    Was würde ich tun, wenn ich hier etwas zu verbergen hätte?, fragte ich mich. Ich bückte mich. Eine der Steinplatten war tiefer in den Boden eingesunken als die anderen. Erregung überkam mich, und ich verspürte eine gewisse Selbstzufriedenheit angesichts dieser Entdeckung.
    Doch auf der Stelle geißelte ich mich in Gedanken für meinen Hochmut.
    Ich tastete den Rand der Platte ab. Wie erwartet ließ sie sich anheben. Sie war leichter, als ich gedacht hatte.
     
    *
     
    In den Handbüchern werden sechs Stufen von Häresie beschrieben, mit denen sich jeder Inquisitor sorgfältig vertraut machen muss, bevor er jenes Amt antritt, in das der Heilige Vater ihn berufen hat. Ein Häretiker ersten Grades ist jemand, der in Angelegenheiten des Glaubens Irrlehren verbreitet oder ihnen anhängt. Ein Häretiker zweiten Grades legt die Worte der Heiligen Schrift anders aus als die Kirche. Ein Häretiker dritten Grades weigert sich, gemeinsam mit anderen Gläubigen die Sakramente und die Kommunion zu empfangen. Ein Häretiker vierten Grades ist jemand, der die Erteilung von Sakramenten stört oder verhindert. Ein Häretiker fünften Grades zweifelt an seinem Glauben, und ein Häretiker sechsten Grades schließlich leugnet die alleinige Vormachtstellung der Römischen Kirche.
    Falls die Anschuldigungen gegen Madeleine de Peyrolles sich als wahr herausstellten, würde sie als Häretikerin ersten oder zweiten Grades eingestuft werden. Ich war fest entschlossen, mich bei meinen Pflichten nicht von meiner früheren Bekanntschaft mit der Angeklagten beeinflussen zu lassen. Was Ihr auch über die Heilige Inquisition gehört haben mögt – in unserer Vorgehensweise waren wir stets korrekt. Das müsst Ihr mir glauben!
     
    *
     
    Ich hatte nicht die Absicht, mit der Befragung von Madeleine de Peyrolles oder Schwester Agnes zu beginnen, solange Bruder Subillais nicht daran teilnehmen konnte. Stattdessen lud ich einige Bekannte von Madeleine vor und führte diese Unterredungen in Gegenwart des Priesters von Saint-Ybars, Père Michel, sowie des Notars Pons, der mit uns aus Toulouse hergekommen war. Der erste Bekannte war ein gewisser Sicard Paylaurens.
     
    *
     
    Sicards äußere Erscheinung konnte einen einschüchtern. Er besaß eine außerordentliche Ähnlichkeit mit Anselm de Peyrolles. Als Erstes fielen mir seine Hände ins Auge, riesige Pranken, hart wie Leder und voller Schwielen von der Arbeit an den Steinen. Welch Ironie des Schicksals, dass dieser gewaltige Mann mir, einem Priester mit schmalen, weichen Händen, nun stumm und unterwürfig gegenüberstand! Ihr müsst wissen, dass meine Zugehörigkeit zur Inquisition mich in der Gegend rund um Toulouse zu einem der gefürchtetsten Männer gemacht hatte. Ich erzähle Euch dies gänzlich ohne Stolz. Es war lediglich eine Tatsache.
    »Euer Name lautet Sicard Paylaurens?«, richtete ich das Wort an ihn.
    Er nickte, warf Pons einen nervösen Blick zu und sah dann wieder zu mir herüber.
    Wenn er wollte, könnte er mich mit seinen bloßen Händen töten, dachte ich bei mir. Es befanden sich keine Wachen im Raum, und Pons sowie der Priester würden kaum etwas ausrichten können. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Sicard zu Gewalttätigkeiten fähig war, und verspürte auf der Stelle eine große Abneigung gegen ihn.
    »Wir benötigen die Mithilfe der Bürger von Saint-Ybars, um die Ketzerei auszurotten. Ein Einwohner der Stadt ist bereits der Ketzerei beschuldigt worden.«
    »Wer, Euer Exzellenz?«, fragte er, obwohl er die Antwort sicherlich kannte.
    »Dazu kommen wir später«, entgegnete ich. Dann folgte die übliche Litanei von Fragen, wie sie die Handbücher verlangte. Schon bald erkannte ich, dass es sich bei Sicard Paylaurens keinesfalls um einen Häretiker handelte, auch wenn er in Madeleine de Peyrolles verliebt sein mochte. Er war ein einfacher Mann mit einfachem Gemüt. Er befolgte die Vorschriften der Kirche ebenso widerspruchslos wie die Regeln seiner Zunft. Er fragte sich vermutlich

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