Die Obamas
zufolge seit Monaten versucht, diese Rede zu verhindern. Er fürchtete, der Präsident könne politisch Schaden nehmen. Auch hielt er den Zeitpunkt für völlig falsch. Emanuel war zudem überzeugt, dass das Einwanderungsgesetz nicht die geringste Chance hatte; im Senat würde kein einziger Republikaner dafür stimmen. Arizona hatte gerade ein strenges neues Gesetz gegen illegale Einwanderer verabschiedet, mit dem die Mehrheit der Amerikaner einverstanden war. Ein solch brisantes Thema vor den Zwischenwahlen aufzugreifen konnte für die geschwächten Demokraten Ärger nach sich ziehen. Und es konnte dazu führen, dass der Präsident als schwach wahrgenommen wurde, weil er etwas vorschlug, was er nicht umsetzen konnte.
Auf Obamas Drängen wurde die Rede schließlich doch auf die Agenda gesetzt. Allerdings erhielt er den Text zu spät. Als er den ersten Entwurf auf einer Reise in den Mittleren Westen durchsah, fand er ihn zu indifferent – er wollte ihn klarer, zündender haben. Er schickte das Manuskript zum Überarbeiten an Axelrod zurück, aber als die neue Fassung kam, war er so unzufrieden damit, dass er fast die ganze Nacht damit zubrachte, sie selbst umzuschreiben.
Das Ergebnis war eine gravitätische Rede, wie er sie während seines Wahlkampfs des Öfteren gehalten hatte – von historischem Gewicht, weit ausholend, griff sie alle Gesichtspunkte der Debatte auf. Er sprach über die stolze, doch kontroverse Geschichte der Einwanderung in die Vereinigten Staaten und erwähnte Erfolgsgeschichten von Albert Einstein bis zu Sergey Brin, dem Gründer von Google. »Immigranten haben schon immer zum Aufbau und zur Verteidigung dieses Landes beigetragen«, sagte er. »Amerikaner ist man nicht durch Abstammung oder Geburt.« Er schloss mit dem berühmten Vers von Emma Lazarus, der Inschrift auf der Freiheitsstatue, über die geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren.
Die Wirkung seiner leidenschaftlichen Worte verpuffte größtenteils bereits während der Ansprache. Nicht nur die Medien fragten sich: Warum das, warum jetzt? Ohne ein entsprechendes Gesetz in der Pipeline zu haben, bedeutete eine Rede nach Washingtoner Maßstäben nicht allzu viel; sie allein reichte nicht aus, um eine Debatte voranzutreiben. Obama nahm es seinen Mitarbeitern insgeheim sehr übel, dass sie ihm nicht von Anfang an die Rede geliefert hatten, die er haben wollte, und dass sie das Thema hinterher nicht energischer in den Medien plazierten. Auch die First Lady war außer sich: Für sie war das ein neuerlicher Beweis, dass ihr Mann nicht gut beraten war. Sie wusste, wie wichtig ihm die Einwanderungsreform war – er hatte seit seinen Senatstagen daran gearbeitet –, und sie wünschte sich, dass er schwierige Themen in Angriff nahm. Und überhaupt, wieso musste er als Präsident der Vereinigten Staaten die ganze Nacht aufbleiben, um sich eine Rede selbst zu schreiben? Der Vorfall bestätigte einmal mehr ihre schlimmsten Befürchtungen. Nach Aussagen mehrerer Mitarbeiter nahm sie die Sache zum Anlass, ihrem Mann klipp und klar zu sagen, dass er ein neues Team brauchte.
Nur wenige wussten, dass der Präsident verärgert war, doch die Kunde vom Missfallen der First Lady verbreitete sich rasch im Westflügel. Wie so oft war es für die Berater schwer festzustellen, wo die Gefühle des Präsidenten aufhörten und die seiner Frau anfingen. Er war ausgesprochen zurückhaltend, sie sehr direkt. Bestätigte sie ihn in seinen schlimmsten Bedenken hinsichtlich seines Stabs? Oder brachte sie nur die Wut zum Ausdruck, die er unterdrückte?
Zu Valerie Jarrett hatte Obama nach wie vor ein fast familiäres Vertrauensverhältnis, wie es zwischen ihm und Emanuel nie entstanden war. Zwei Mitarbeiterinnen zufolge bat er Jarrett im Vertrauen, ihm noch mehr als bisher den Rücken freizuhalten und dafür zu sorgen, dass seine anderen Berater ihm das lieferten, was er haben wollte.
Es war eine heikle Lösung für ein heikles Problem, denn Jarrett war nicht die Stabschefin. Mit diesem Vorgehen trat der Präsident einen neuerlichen Rückzug in den familiären Bereich an, und genau dies war der Grund gewesen, warum Emanuel von einer Beschäftigung Jarretts im Weißen Haus abgeraten hatte. Im Westflügel musste unter den Mitarbeitern Solidarität herrschen; sie mussten bereit sein, füreinander einzutreten, und reibungslos zusammenarbeiten, um den Präsidenten zu lenken und zu leiten. Wie schon im Wahlkampf sei Jarretts bloße Anwesenheit für die anderen
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