Die Obamas
einhauchen und so Nachdruck verleihen.
»Gabby hat zum ersten Mal die Augen aufgemacht«, wiederholte der Präsident, und die Trauergäste seufzten erleichtert auf. »Gabby hat die Augen aufgemacht.« Es war ein Refrain, der inmitten von tiefer Trauer unerwartet Freude und Erleichterung auslöste. »Gabby hat die Augen aufgemacht, daher kann ich Ihnen sagen, sie weiß, dass wir hier sind.« Die First Lady hielt immer noch Mark Kellys Arm, und gemeinsam reckten sie triumphierend die Fäuste in die Luft. Mit der anderen Hand putzte sich Michelle Obama die Nase, denn sie hatte angefangen zu weinen. Mark Kelly stand auf, um sich für den donnernden Applaus zu bedanken, und Michelle umarmte ihn herzlich.
Der Präsident warnte davor, aus Loughners Tat simple Schlüsse zu ziehen und voreilig Schuld zuzuweisen. »Anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen, sollten wir die Gelegenheit nutzen, über unsere moralischen Grundsätze nachzudenken, und einander noch aufmerksamer zuhören und unser Einfühlungsvermögen schärfen«, sagte er.
Es war einer der seltenen Momente, in denen Obamas Herkunft es ihm als Präsident leichter machte anstatt schwerer. Im Augenblick einer großen Tragödie konnte man nirgends solchen Trost und Halt finden wie in einer schwarzen Gemeinde. Obamas Ansprache, die mit liturgischen Elementen wie eben den Wiederholungen einzelner Satzteile arbeitete, wirkte unmittelbar auf die Menschen, sie machte seine Rede einem breiteren Publikum verständlich und richtete die Nation moralisch auf. Bill Clinton hatte es seinerzeit genauso gemacht, aber Obama hatte den enormen Vorteil, dass er tatsächlich schwarz war. Und als er in seiner Rede das Buch Hiob zitierte, strafte seine Kenntnis der Bibel diejenigen Lügen, die behauptet hatten, er sei gar kein Christ. Ganz kurz flackerte in seinen Augen dieser »Ich zeige es euch«-Blick auf: Ich werde Jesus erwähnen, wenn ich es für richtig halte.
Zum Schluss seiner Rede kam er auf Christina Taylor Green zurück. »Stellen Sie sich für einen Moment dieses kleine Mädchen vor, das sich gerade erst unserer Demokratie bewusst wurde«, sagte er. »Christina hat all das mit den Augen eines Kindes gesehen, ungetrübt von dem Zynismus und der Verbitterung, die wir Erwachsenen viel zu häufig für normal halten.«
Auf ähnliche Weise hatte er seine Töchter Sasha und Malia in seine Reden eingebunden, aber jetzt ging es um Christina, ein Mädchen, dessen Aufrichtigkeit und Optimismus einen krassen Gegensatz zu den Widerwärtigkeiten der Politik bildeten. »Ich möchte gern ihre Erwartungen erfüllen«, sagte er. »Ich möchte, dass unsere Demokratie so gut ist, wie Christina sie sich vorgestellt hat.« Erneut erntete er tosenden Applaus.
Auf Twitter wollten die positiven Kommentare kein Ende nehmen. »Der Präsident ist wieder da«, freute sich ein Teilnehmer. »Und ob, meine Damen und Herren, wir haben einen Präsidenten«, jubilierte ein anderer. Obama hatte die Brücke geschlagen, indem er die richtigen Worte fand in einem Moment, als es allen die Sprache verschlagen hatte. Diesmal ging es ihm nicht um seine Agenda; er hatte endlich genau begriffen, was das Land von ihm wollte und brauchte. Die Rede hatte nichts mit Politik zu tun, und genau das war sehr kluge Politik. Selbst viele Republikaner gratulierten ihm zu seiner großherzigen, vernünftigen, zivilisierten, vereinenden Ansprache.
An Michelles Gesichtsausdruck ließ sich tiefe Zufriedenheit ablesen. Er hatte endlich eine Rede gehalten, die ihm entsprach und zeigte, wozu er fähig war. Ihr Gesichtsausdruck sagte: So habe ich mir dich als Präsident vorgestellt.
***
Nicht alle Versuche Barack Obamas, in den ersten Monaten des Jahres 2011 für seine Präsidentschaft zu werben, gelangen so gut. Seine Rede zur Lage der Nation einige Wochen nach der Ansprache in Tucson war eher nüchtern, eine betont optimistisch gehaltene Botschaft über die nationale Wettbewerbsfähigkeit, über Arbeitsplätze, bessere Allgemeinbildung und die Industrien der Zukunft. Sein Tonfall wirkte etwas gekünstelt, als würde er einen auswendig gelernten Text aufsagen. Obama hatte nie mitreißende wirtschaftspolitische Parolen verkündet, nicht einmal während des Wahlkampfs 2008 , und daran hatte sich nichts geändert. Die Arbeitslosenquote war leicht gesunken, aber sie lag immer noch bei neun Prozent, und eine angestrebte Verbesserung der Allgemeinbildung bot wenig Trost für die Arbeitslosen.
Obama versuchte, seinen neuen Kurs der
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