Die Obamas
Rahm Emanuel, David Axelrod und Robert Gibbs, wenn auch noch hinter vorgehaltener Hand. Und mehr noch: Einige prominente Demokraten verkündeten das potenzielle Scheitern der Reform sogar in aller Öffentlichkeit. Emanuel drängte den Präsidenten erneut, seine Pläne zurückzuschrauben; er argumentierte, dass man für die Verabschiedung nicht genug Stimmen habe. Viele demokratische Kongressabgeordnete hatten das Weiße Haus zudem seit Monaten davor gewarnt, dass das Gesetz in der Öffentlichkeit unpopulär sei und dass viele Stammwähler unzufrieden über den Kuhhandel im Senat seien. Der Präsident war zwar willens, sein gesamtes politisches Kapital für die Gesundheitsreform zu riskieren, aber »es gab Leute im Kongress, die fanden, dass nicht nur sein, sondern auch ihr politisches Kapital auf dem Spiel stand«, sagte Axelrod später. Wenn dieses Gesetz übers Knie gebrochen wurde, kam das nicht nur einem Versagen des Präsidenten bei seinem dringendsten Ziel gleich, denn Obama hatte fast alles auf eine Karte gesetzt.
Als Robert Gibbs seine täglichen Presseinformationen vorbereitete, fragte ihn ein Mitarbeiter, wie er auf Fragen der Journalisten, ob die Gesundheitsreform tot sei, reagieren solle. Axelrod legte die Finger an die Lippen und meinte besänftigend: »Erklär ihnen, die Reform ist nicht tot. Sie
schläft
nur.«
Der Präsident hatte in den Tagen nach der Wahl kaum öffentliche Auftritte, und selbst im Weißen Haus wussten seine engsten Mitarbeiter nicht, ob er das Gesetz in seiner umfassenden Form retten oder Emanuels Empfehlung folgen würde. Bei Besprechungen hielt er sich nicht lange beim Thema Brown und dem Verlust des Senatssitzes auf, er griff auch sein Team nicht an. »Ich habe in all den Jahren der gemeinsamen Arbeit nie erlebt, dass er bei Fehlschlägen seinen Leuten die Schuld gab«, sagte David Axelrod. »Seine Haltung war immer: ›Okay, wie schaffen wir’s dennoch?‹«
Michelle Obama reagierte in solchen Situationen anders, das hatte schon ihr Auftritt vor den Bürgermeistern angedeutet. Sie war wütend, nicht nur auf das Team des Präsidenten, sondern auf den Präsidenten selbst. »Sie hat das Gefühl, dass wir die Segel nicht richtig gesetzt haben«, teilte Obama seinen Mitarbeitern mit. Im Stab war man überzeugt, dass dies nicht ganz die exakte Wortwahl der First Lady gewesen sein dürfte.
Die Auswirkungen dieses Disputs auf den Präsidenten waren unübersehbar. Normalerweise wirkte er emotional sehr stabil, ohne große Ups and Downs; selbst während der ungemein schwierigen Herbstmonate hatte er unbeirrt Kurs gehalten. Seine Frau hatte jedoch die Fähigkeit, sich in ein Thema zu verbeißen und ihn emotional aufzurütteln wie sonst niemand. In strategischen Sitzungen sprach er zwar weiterhin davon, dass man unbedingt Kurs halten müsse, doch für seine engsten Mitarbeiter war unübersehbar, wie niedergeschlagen der Präsident war.
Für Michelle Obama war der Sieg Scott Browns ein trauriger Beweis dafür, was sie seit Monaten, ja in einigen Fällen bereits seit Jahren behauptete: dass ihr Mann sich schon viel zu lange auf die immer gleiche kleine Gruppe von engstirnigen, kurzsichtigen und schlecht organisierten Beratern stütze; sie seien keine sorgfältigen Planer, die auch die schlimmsten Szenarien in ihre Analysen mit einbezögen. Und nun würde nach dem ganzen langen, harten Kampf die Gesundheitsreform dennoch ein Fehlschlag werden. Für Michelle Obama, deren Toleranz gegenüber vermeidbaren Fehlern ohnehin gering war, sei dies ein Beleg für unfassbare Misswirtschaft gewesen, sagten verschiedene Mitarbeiter. Die Kritik der First Lady war nicht aus der Luft gegriffen: Viele Demokraten äußerten sich in der Öffentlichkeit ähnlich.
Aber es steckte noch mehr dahinter. Der Verlust des Senatssitzes in Massachusetts brachte erneut die grundlegende politische Meinungsverschiedenheit zwischen den Eheleuten zutage, die im Glanz des Sieges von 2008 eine Zeitlang in den Hintergrund gedrängt worden war. Nun waren all ihre aufgestauten Befürchtungen, Zweifel und Ängste wieder da. Das Gezerre um die Gesundheitsreform symbolisierte, was Michelle Obama an der Politik zutiefst zuwider war – all das, worüber sie in den vergangenen fast zwanzig Jahren mit ihrem Ehemann diskutiert hatte: ihre Skepsis, ob wirkliche Veränderungen nur über den Weg der Gesetzgebung erreicht werden konnten; wie ernsthafte Pläne zugunsten feiger Absprachen preisgegeben werden konnten; und wie es sein
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