Die Obamas
oben herab kritisierte. Sicher, der First Lady war ungemein an der Verabschiedung der Gesundheitsreform gelegen, aber im Gegensatz zu allen übrigen Mitarbeitern trug sie nicht mit an der Bürde, die Verabschiedung des Gesetzes tatsächlich über die Bühne bringen zu müssen. Sie kritisierte die Regierung, obwohl sie selbst zögerte, für Kongressmitglieder in den Wahlkampf zu ziehen.
Rahm Emanuel wusste, dass das Weiße Haus nur dann effektiv arbeiten konnte, wenn alle zusammenhielten und sich nicht in Schuldzuweisungen verloren. Sein Team war ohnehin genug von Selbstzweifeln gepeinigt, so dass der Zorn der First Lady unnötig demoralisierend wirkte. Alle standen massiv unter Druck, nun mussten sie sich auch noch mit ihren Anschuldigungen auseinandersetzen. Ähnlich wie andere Mitarbeiter sah Emanuel Michelle Obama am liebsten in der Rolle der warmherzigen, gastfreundlichen First Lady bei Führungen oder Empfängen im Weißen Haus – und als Partnerin, die die Stimmung des Präsidenten aufhellte und nicht dämpfte. Nach allem, was Obama in diesem Herbst durchgemacht hatte, und bei allem, was noch auf ihn zukommen würde, frage man sich, wie sie so über ihren Mann herfallen konnte.
Noch wichtiger aber war, dass der Stabschef den Präsidenten dazu bringen wollte, seine Bemühungen um die Gesundheitsreform zurückzuschrauben, während die First Lady wollte, dass er sie forcierte. Emanuel wollte den Sieg nach den Standardkriterien präsidentiellen Erfolgs erringen: gesetzgeberische Siege, Umfrageergebnisse. Michelle Obama hatte persönlichere Maßstäbe: Wurde ihr Mann seinem Auftrag gerecht? Wie viel Gutes bewirkte er? Waren seine Fortschritte die Opfer und Risiken wert, die seine Familie einging?
Obama hatte sich zwischen den beiden Fronten positioniert. Er war von Natur aus eher vorsichtig und kompromissbereit; in seinen Interviews und in
Hoffnung wagen
stößt man immer wieder auf Einerseits-andererseits-Argumente. Das war eine Rolle, in der er sich wohl fühlte, die des Mediators zwischen verschiedenen Weltanschauungen: wenn er die Konservativen und die Liberalen in der
Harvard Law Review
zusammenbrachte oder seine Woche zwischen den Juristischen Fakultäten von Springfield und der University of Chicago aufteilte. (So etwa hatte er sich von zwei extrem unterschiedlichen Figuren des politischen Lebens von Illinois gleichzeitig beraten lassen: dem liberalen Abner Mikva und dem konservativen Emil Jones jr.) Als Präsident hatte er jetzt eine Frau und einen Stabschef, die in Anschauung und Temperament kaum gegensätzlicher sein konnten und ihn in entgegengesetzte Richtungen zogen.
Seltsamerweise waren Michelle und Rahm aber doch nicht völlig verschieden: einerseits fast Gegenpole, andererseits auch einer Spiegel des anderen. Sie wussten die Macht ihrer Persönlichkeit auszuspielen und ihr ganzes Gewicht dafür einzusetzen, jeden in ihrer Umgebung aufzubauen oder niederzuringen, je nachdem, was ihnen opportun schien. Beide wurden im Weißen Haus gefürchtet, aber beide hatten auch leidenschaftliche Parteigänger, die beharrlich behaupteten, ihr Bellen sei schlimmer als ihr Beißen. Beide glaubten von sich, dass sie ein besseres Gespür für die Stimmung draußen im Lande hätten als die meisten anderen im Weißen Haus. Emanuel war in ständigem Kontakt mit Volksvertretern auf dem Capitol Hill, die wiederum enge Verbindungen zu ihrer Wählerschaft pflegten; die First Lady war überzeugt, dass ihre einfache Herkunft und ihr Aufwachsen fern von Washington sie, mit den Worten eines Beraters, zur »Abteilung für Wirklichkeitsnähe« mache. Beide versuchten sie, Barack Obama zu schützen, und beide hatten ihre liebe Mühe mit seiner Einsamkeit und seiner Introvertiertheit. Sie waren wie der erste und der zweite Ehepartner, die eines gemeinsam haben: Sie hatten beide denselben Mann »geheiratet« und hatten sich beide von ihm ein wenig in den Wahnsinn treiben lassen.
***
Das Merkwürdigste an dieser Angelegenheit war vielleicht, wie viel Raum sie in der Beziehung zwischen den beiden Obamas und ihren Beratern einnahm. So etwas ist wahrscheinlich nur in Präsidentenehen möglich: Nur dort kann sich eine ehemals rein private zwischenmenschliche Beziehung wie eine Ziehharmonika dehnen, bis sie öffentliche Ereignisse, politische Entscheidungen und Teile der Regierungsarbeit umspannt. Früher hatten sich die Debatten des Paars in einem nicht besonders großen Eigenheim im Chicagoer Hyde-Park-Viertel abgespielt und waren
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