Die Obamas
Präsidenten unterwegs waren, konnten sie sich relativ unbehelligt in der Stadt bewegen, ohne den ganzen Wirbel, den vergleichbare Reisen zu viert verursacht hatten. Während die Stunde der Abstimmung näher rückte, saßen sie im Mesa Grill, einem Restaurant mit Südstaatenküche, und besuchten dann die Broadway-Show
Memphis
– ein Stück über eine Romanze zwischen Schwarz und Weiß zur Zeit der Rassentrennung.
Wenige Stunden nachdem in New York der Vorhang der Show gefallen war, versammelten sich der Präsident und seine Mannschaft im Roosevelt Room des Weißen Hauses, um die Abstimmung im Fernsehen zu verfolgen. Als die zweihundertsechzehnte Stimme gezählt und damit das Gesetz verabschiedet war, klatschten alle Beifall. Sie hatten das Unmögliche geschafft. Anstatt sich allein in seine leere Wohnung im Obergeschoss zurückzuziehen, lud der Präsident alle Mitarbeiter ein. Es war der bis dahin größte Triumph seiner Amtszeit, und den wollte er feiern.
Viele der Beteiligten betraten zum ersten Mal die Privatresidenz des Präsidenten, der sonst strikt auf eine Trennung von offizieller Rolle und Privatleben achtete. Nun standen alle mit Drinks in der Hand im Yellow Oval Room oder auf dem Truman-Balkon, während der Präsident sichtlich auftaute und gesprächig wurde – am liebsten hätte er wohl alle umarmt. Seine Krawatte hatte er längst abgelegt. »Wer hat Lust auf die Abraham-Lincoln-Schlafzimmer-Tour?«, entgegnete er spontan auf die Frage, ob man diese Räume auch besichtigen dürfe. [48]
Seit mehr als einem Jahrzehnt hatte der Präsident sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen müssen, er sei unterqualifiziert oder man habe ihn hochgejubelt, er sei ein Besserwisser, aber er habe noch keine echte Bewährungsprobe überstanden – seine größte Leistung sei bisher sein eigener Aufstieg gewesen, hatte der Republikaner Bobby Rush 2000 über seinen Herausforderer bei der Kongresswahl gelästert. Mike Madigan wiederum, Demokrat und Sprecher des Repräsentantenhauses von Illinois, hatte Obama einmal gar als »Messias« bezeichnet. »Vielleicht wird er eines Tages etwas tun, das all diesen Rummel rechtfertigt«, hatte Michelle Obama dem Journalisten Jeff Zeleney zugeflüstert, als ihr Mann als frisch gewählter Senator, ein großes Gefolge im Schlepptau, zum ersten Mal durch das Kapitol ging. [49]
Während der Präsidentschaftskampagne hatten Hillary Clintons Anhänger ihm vorgeworfen, er sei ein politisches Leichtgewicht, und die Republikaner hatten aus dem Messias-Spruch einen Wahlspot mit schwülstiger Musikuntermalung gemacht.
Doch jetzt hatte Barack Obama etwas geschafft, was keinem seiner Vorgänger gelungen war: Er hatte eine umfassende Gesundheitsreform verabschiedet und damit die größte Lücke im sozialen Sicherheitsnetz Amerikas geschlossen. Das Gesetz würde den meisten Amerikanern zu einer Krankenversicherung verhelfen; es betraf zweiunddreißig Millionen bisher unversicherte Bürger; die Versicherungen konnten nicht länger Patienten mit bereits bestehenden Krankheiten abweisen; und Familien mit einem jährlichen Einkommen bis zu 88000 Dollar würden staatlich unterstützt werden. Nie wieder würde irgendjemand behaupten können, dass Barack Obama außer seinem eigenen Aufstieg nichts zustande gebracht habe. Später sagte ein Außenstehender, der Präsident reagiere defensiv auf den privat geäußerten Verdacht, er habe die Verabschiedung der Gesundheitsreform aus persönlicher Unsicherheit über seine Leistungen heraus vorangetrieben. Doch an jenem Abend jubelte er. »Der Wahlsieg allein gibt einem nur die Möglichkeit, etwas zu erreichen«, erklärte er Axelrod. »Diesmal haben wir tatsächlich etwas bewegt.«
Obama war sicher, dass die Bevölkerung das Gesetz letztendlich positiv aufnehmen würde, so seine Mitarbeiter. Er war überzeugt, dass die Wähler die Gesetzgebung betrachten würden wie er: nicht als zusätzliche Einflussnahme der Regierung, nicht als verwässertes Resultat von viel Gemauschel, sondern als eine Reihe von Leistungen, die zu einer besseren medizinischen Versorgung, weniger Nichtversicherten und insgesamt einer gesünderen Bevölkerung führen würde.
In gewisser Weise war es passend, dass die First Lady bei dieser Party nicht anwesend war – in Anbetracht der Tatsache, dass kaum jemand wusste, welche Rolle sie hinter den Kulissen gespielt hatte. Sie beurteilte ihren Mann nicht mehr so kritisch, jedenfalls vorübergehend, wie ein Berater meinte. Sie
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