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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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riesigen Händen.
    Das Fernglas rückte er immer noch nicht heraus, aber das, was Schlüter mit bloßem Auge sah, reichte. Ein Schlepper fegte den zerbeulten Moorweg hinauf, die Leute darauf tanzten in den Schlaglöchern wie Tennisbälle, er raste durch den Zaun, trieb einen Keil zwischen die Tiere, blieb mit einem Ruck stehen, zwei Tennisbälle sprangen herunter und arbeiteten sich, bewaffnet mit langen Waffen, wohl Forken oder Stangen, lauter noch brüllend als die wütenden Bullen, bis zu dem regungslosen Bündel vor. Wenig später hörten sie das Martinshorn des Notarztes.
    »Ohh«, stöhnte Schlichtmann. »Dat mööt de niigen Nobers wehn hebben, de Bescheed seggt hebbt, de kinnt dat Oos ja noch nich …« {22}
    Damit war das Thema erledigt. Rathjens, der es darauf angelegt hatte, dass man ihn eines Tages umbrachte, schien für dieses Mal seinem gerechten Schicksal entkommen zu sein, und Schlüter musste sich keine Sorgen wegen unterlassener Hilfeleistung machen. Schlichtmann war schweigend in seinem Rollstuhl sitzen geblieben, das Gesicht hinter dem Gitter seiner Hände. Schlüter schlich sich fort und traf draußen die Bäuerin, mit Christa ins Gespräch vertieft über den richtigen Rosenschnitt, sie hatten nichts mitbekommen, waren wohl in der rückwärtig gelegenen Küche gewesen, gerade erst hinausgegangen. Ob der Herr Rechtsanwalt nicht auch eine Tasse Kaffee wolle. Nein, er habe noch einen anderen Termin, log Schlüter, es sei schon spät. Und, fügte er hinzu, dem Ehemann gehe es nicht besonders, vielleicht sei es besser, nach ihm zu sehen. Die Augen der Frau weiteten sich und sie eilte ins Haus.
    Auf dem Weg zur Straße hätte Schlüter gern Christas Hand genommen, aber er traute sich nicht. Was sollten die Leute denken, in dem Alter! Als sie außer Hörweite waren, erzählte er ihr, was er erlebt hatte. »Das nimmt kein gutes Ende«, war Christas Kommentar.
    Nach zehn Telefonaten dachte Schlüter, es reicht für heute, die Mistkarre ist voll, die Dranktonne schwappt über, ich mache mir einen Tee. Die Tür öffnete sich und Angela erklärte, ein Herr sei im Wartezimmer, neue Sache, ob er Zeit habe. Kurbjuweit sei sein Name.
    »Schicken Sie ihn rein.«
    Besser eine neue Sache bearbeiten, neuen Mist über den alten breiten. Schlüter räumte die Telefonakten beiseite, bis die Akte Horeis gegen Hagenah wieder auftauchte, klappte sie zu und warf sie zurück auf den Sorgenstapel.
    Der Mann, der eintrat, hatte dumpfe, hervorquellende Augen in einem kürbisrunden Kopf.
    »Guten Tag«, flüsterte er. Es klang wie eine Entschuldigung.
    Schlüter erhob sich, erwiderte den Gruß und forderte den Mann auf, Platz zu nehmen. Langsam und mit schiefem Oberkörper, begleitet von einem Ächzen, eine Hand über dem Knie angeleimt zur Stärkung der Statik, ließ sich der Mann auf den Besucherstuhl sacken. Wie gut, dass ich wenigstens neue Stühle angeschafft habe, dachte Schlüter, die alten hätten das nicht mehr ausgehalten.
    »Was führt Sie zu mir?«, fragte er.
    So fingen die Gespräche an bei neuen Sachen. Immer. Nach fast dreißig Jahren dachte man sich keine neuen Varianten mehr aus. Wenn Schlüter witzig sein wollte, sagte er höchstens: Was treibt Sie zum Rechtsanwalt? Aber Kurbjuweit verstand keine Witze. Seine vorstehenden Augen starrten auf Schlüter wie auf ein Schafott, auf dem er hingerichtet werden sollte. Hoffnung sah anders aus.
    Wortlos zog der Mann ein knittriges Blatt aus einem Umschlag und legte es auf die Tischplatte.
    »Kündigung«, sagte er und stieß einen Seufzer, das Elend der Welt und den Geruch von Paradontose aus.
    Schlüter strich das Papier glatt und las:
     
    Sehr geehrter Herr Kurbjuweit,
     
    aus betrieblichen Gründen erklären wir Ihnen hiermit die Kündigung zum 30. Juni 1998. Ihre Papiere erhalten Sie im Lohnbüro.
     
    Mit freundlichen Grüßen
    Schrader pp
    Walther OHG
     
    Ein Brief aus Eis.
    Schlüter ließ das Blatt sinken und lehnte sich vorsichtig in seinen alten Eichenstuhl zurück. Die aus Leder gearbeitete Sitzfläche war zerschlissen, die Pferdeschwanzhaare quollen aus der Polsterung und kratzten seinen Hintern. Die Dübel an den Armlehnen waren müde und das Holzkreuz, das einst die Beine beisammengehalten hatte, war zerbrochen, als er einmal bei der Lektüre eines Fehlurteils um sich getreten hatte. Trotzdem: ein Erbstück, das man zu ehren wusste, vom mütterlichen Großvater in Husum, der schon seit Jahrzehnten die Krokusse von unten anguckte.
    »Da kann man nichts

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