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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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machen, oder?«, unterbrach der Mandant die Gedanken des Rechtsanwalts.
    Ein Geruch nach ungepflegten Körperfalten, ungelüfteter Wohnung und zu lange getragener Wäsche wuchs über den Schreibtisch. Schlüter riss sich zusammen. Man musste es hinter sich bringen.
    Er glich das Datum des Schreibens mit dem Kalender an der Wand ab. Die Dreiwochenfrist für die Kündigungsschutzklage würde erst in zweieinhalb Wochen ablaufen. Seit wann Herr Kurbjuweit in der Firma arbeite?
    »Ich bin am 1. Oktober 1993 angefangen«, antwortete Kurbjuweit hell und ohne Zögern, als sei dieser lichte Tag vor bald fünf Jahren für ewig in sein Gehirn eingebrannt. »Vorher war ich über ein Jahr arbeitslos, nachdem das Betonwerk pleite war.«
    Schlüter fragte, Kurbjuweit antwortete mit seltsam totem Gesicht und leiser Stimme. Wie oft hatte man solche Fragen schon gestellt? Arbeitsrechtssachen waren eigentlich schöne Streitigkeiten. Es gab einen ordentlichen Streitwert, das dreifache Monatseinkommen nämlich, und meistens verglich man sich bei Gericht in der Güteverhandlung ohne lange Hakeleien und verschaffte sich eine Vergleichsgebühr. Bis dahin galt es, den Ball flach zu halten und die Schriftsätze dünn. Wenig Arbeit, viel Geld. Wat de een siin Uhl iss, iss de annern siin Nachtigall. Aber wehe, man verglich sich nicht, dann gab es Hauen und Stechen auf vielen Seiten Papier. Die Akten wurden dick, und wenn sie fünf Zentimeter und das Gewicht von tausend Gramm überstiegen, war die Bilanz des Rechtsanwalts zerstört und das Arbeitsverhältnis mit: Der Arbeitnehmer hatte ausgeschissen.
    Die Walther OHG beschäftigte mindestens fünfzig Leute, einer der letzten aktiven Betriebe im Stadtgebiet von Hemmstedt. Er stellte Gummiprodukte her, Kurbjuweit wurde lebendig und zählte sie auf, Walzfelle, Batch-off-Felle, Wig-Wag-Felle, Pendelstreifen, Kalanderbahnen, da hätte »seine Firma« sogar ein Patent drauf, erklärte Kurbjuweit und richtete sich auf, das wäre nämlich folgendermaßen: Die Bahnen zur Beschichtung von Walzen würden in Rollenform geliefert, mit Schutzfolie drauf, damit nichts verklebte. Früher hätten sie diese Folie von Hand abziehen und das Material anschrägen müssen, auf großen Tischen, zu zweit, das sei ganz schön schwierig gewesen, das hätte er, Kurbjuweit, selbst gesehen, aber mit der neuen patentierten Technik würde man die Folie – kurz vor dem Auftrag des elastomeren Materials – mechanisch abziehen, mithilfe eines nach oben verschwenkbaren Spreizdorns, Kurbjuweit hob die Hände und zeichnete den Spreizdorn in die Luft, was immer das war. Schlüter tat so, als begreife er etwas davon, nickte verständig, was Kurbjuweit zum Fortfahren ermunterte, stellte aber auf Durchzug, bis Kurbjuweit den technischen Vorgang in allen Einzelheiten dargestellt hatte. Man musste die Leute aussprechen lassen, das Matte auf Kurbjuweits Augen war fort, seine Stimme hatte Zimmerlautstärke und Männertiefe erreicht, er sprang weiter zum nächsten Thema, dem Reifenservice, den der Betrieb vor vier Jahren aufgemacht hatte, Runderneuerung und Vulkanisierung, hauptsächlich für Lkw und Winterreifen, meistens aber für Lkws, weil die Walther OHG die ZR-Zulassung für Pkws nicht hatte, auch bei Run-flat-Reifen ginge das nicht, aber Reifen bis zum Vmax-Index T dürften auch an der Reifenflanke vulkanisiert werden, elektronisches Wuchten am Fahrzeug sei …
    »Haben Sie ein Auto?«, bremste Schlüter.
    Kopfschütteln. Nein. Nicht mehr. Kurbjuweits Blick erlosch.
    Gummi-Walther nannte man den Betrieb, der früher, daran erinnerte Schlüter sich jetzt, auch für die ganz kleinen Gummiprodukte zuständig gewesen war, aber man hatte diesen Betriebszweig stillgelegt, jetzt kamen die Pariser von den Chinesen.
    Auf jeden Fall sei das Kündigungsschutzgesetz anwendbar, erklärte Schlüter – nun war er an der Reihe –, wonach einem Arbeitnehmer, der sich tadellos verhalten hat, nur gekündigt werden darf, wenn ein betrieblicher Grund dies erforderlich mache und zuvor eine zutreffende Sozialauswahl vorgenommen worden sei, ein schwammiger Begriff, den sich deutsche Juristen anstelle des amerikanischen Spruchs last hired first fired ausgedacht hatten. Ob noch anderen Leuten gekündigt worden sei?
    Kurbjuweit zuckte seine massigen Schultern. Davon wisse er nichts.
    Ob er das herausbekommen könne?
    »Ich habe nicht so viel Kontakt.« Und er sei schon lange nicht mehr im Betrieb gewesen, wegen der Krankheit und so.
    Ob noch andere Leute im

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