Die Oder Ich
Schützenfestbildern in der Zeitung, die, wie Christa einmal lachend bemerkt hatte, allesamt an genetisch bedingter Verkürzung der linken Halssehne litten. Schlichtmann fuhr einen seiner langen Arme aus und riss mit einem bissigen Knurren die Gardine beiseite.
»Watt?«, rief er. »Watt?« Er drückte sich mit dem gesunden Bein aus dem Rollstuhl und stemmte die Fäuste auf das Fensterbrett.
Was war da draußen los?
»Das Fernglas her, auf dem Schrank!«, zischte Schlichtmann, wies hinter sich und stieß das Fenster auf. Jetzt sprach er plötzlich Hochdeutsch.
Schlüter fand das Glas auf dem deutscheichenen Wohnzimmerschrank, unter dem Hochzeitsbild, zwischen Readers-Digest-Büchern, einer Medaille von der DLG für beste Milchleistungen und dem Kaffeeservice der Urgroßmutter, KPM. Er stellte sich neben den Bauern, dessen linkes Bein tot herabhing und schwabbelte wie Götterspeise. Zwischen den Fliederbüschen im Garten hindurch, an einem blühenden Apfelbaum vorbei, ging der Blick in die Feldmark, über die sattgrünen Weiden und Wiesen und verlor sich am Horizont in der Gemarkung Altenmoor, wo es sogar Wald gab. Es duftete bitter nach frischem Birkengrün. In ein paar Hundert Metern Entfernung, neben dem Ende eines Birkenweges, konnte Schlüter einen Schlepper erkennen, dahinter einen kleinen Anhänger. Ein Stückbreit daneben massige schwarzbunte Tiere in einem Halbkreis, sie warfen ihre Köpfe auf und nieder: Bullen, die ihr dissonantes Juchzen ausstießen, ein Mordsgebrüll, fand Schlüter und ein Schauer überlief seinen Rücken.
Schlichtmann packte das Fernglas. »Hä!«, knurrte er nur. »Hä!« Und hüpfte auf seinem gesunden Bein.
»Was ist los?«
Schlichtmann starrte durch das Glas wie beim Pferderennen, als hätte er ein Vermögen gesetzt. »Ja!«, rief er. »Feste!«
»Was sehen Sie?«, wollte Schlüter wissen und langte ungeduldig nach dem Glas, bekam aber den Ellbogen des Bauern ins Zwerchfell und musste sich am Sofa festhalten.
»Se hebbt em vör«, presste Schlichtmann heraus. »Se mokt em ferdig! {19} «
Schlüter strengte seine Augen an. Gleich hinter dem Zaun, in der Mitte des Weidestückes, ein dunkles Bündel im Gras, umringt von Bullen, und einer von ihnen, sicher der Leitbulle, hieb mit dem Rammbock seines Kopfes auf das Bündel ein. Seine Meute feuerte ihn an mit Gebrüll und Geheul über sämtliche Oktaven. Und jetzt Fetzen eines menschlichen Hilferufs, in Todesangst.
»Hören Sie«, rief Schlüter. »Wo ist das Telefon, wir müssen sofort …«
»Wi mööt gonnix {20} «, erklärte Schlichtmann. Er drehte sich um und nahm den weichen Arm des Advokaten in den Schraubstock seiner Faust. »Sie rühren sich nicht vom Fleck, verdammt noch mal!«
»Aber …«
»Nix aber. Hiergeblieben! Bei aller Freundschaft!«
Das klang ruhig und entschlossen. Da ist nichts zu machen, dachte Schlüter. Schließlich befand er sich nicht in Gefahr und da drüben sorgten Rathjens Bullen für Gerechtigkeit.
6. Kapitel
In dem Rechtsanwalt Schlüter Gabelstaplerweisheiten lernt und
sich Gedanken macht über Fragen, die er nicht gestellt hat
Schlüter hatte sich an diesem Montag hinter seinen abgewetzten Schreibtisch gesetzt, mit dem festen Vorsatz, heute endlich die Klage in Sachen Horeis gegen Hagenah zu fertigen. Seit er eine knappe halbe Stunde Autofahrt bis zum Büro hatte, machte er sich unterwegs einen Tagesplan; er bildete sich ein, so die verlorene Zeit zu nutzen. Die Akte lag zuoberst auf dem Sorgenstapel. So nannte Schlüter die unerledigten Vorgänge. Er hatte die gefährliche Angewohnheit, schwierige Sachen beiseitezulegen, bis sie ihm Gewissen und Laune zerdrückten. Der junge Horeis hatte sich bei einem Unfall zuschanden gefahren, saß im Rollstuhl seitdem, die dünnen Beine auf den Fußrasten fixiert, gelähmt unterhalb des vierten Lendenwirbels. Er war nicht angeschnallt gewesen. Einer von diesen Jungen, die nach dem Zusammenbruch aller Weltbeglückungsdoktrien den Blick aufs große Ganze verloren hatten, die glaubten, dass die Welt eingerichtet sei und man sie nicht mehr ändern könne, die nur noch Widerstand im Kleinlichen übten, nämlich gegen Sicherheitsgurt und Geschwindigkeitsvorschriften. Deshalb hatte Horeis den Unfall mitverschuldet. Hagenah hatte ihm zwar die Vorfahrt genommen, aber Horeis war viel zu schnell gefahren, wie der von der Polizei engagierte Sachverständige anhand der Bremsspuren, der Endstellung der Autowracks und ihrer Deformationen ermittelt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher