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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Lager gearbeitet hätten?
    Nein, er sei der Einzige gewesen.
    Wer seine Arbeit im Lager übernommen habe?
    Schulterzucken.
    Wie sollte man unter derartigen Umständen die Sozialauswahl prüfen? Ob er, Kurbjuweit, Familie habe?
    Die könne ihm den Puckel runterrutschen.
    »Ich meine, sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?«
    Kurbjuweit schüttelte den schweren Kopf und schloss die vorstehenden Augen.
    »Wie alt sind Sie?«, fragte Schlüter und überlegte, ob sich ein Prozess so kurz vor der Rente noch lohnte.
    »Fünfundfünfzig«, antwortete Kurbjuweit leise. »In dem Alter …«
    Die Menschen in dieser Gegend alterten schnell. Als zöge das hohe Grundwasser ihnen die Kraft aus den Knochen. Ob es andere Mitarbeiter ohne Familie im Betrieb gebe, jünger als Kurbjuweit, die später eingestellt worden seien? Im Kündigungsschutzprozess gab es keine Solidarität, das war ein Begriff aus dem Paradies der Moral, aus dem die Paragrafen die Menschen vertrieben hatten.
    »Woher soll man das denn alles wissen?«
    »Man spricht doch miteinander.«
    Nein, im Lager mit den haushohen Regalen war man allein. Man sprach nicht. Man kriegte seine Aufträge und erledigte sie. Manche mit den Händen, man rollte die Reifen hinaus ins Freie, die größeren schaffte man mit der Sackkarre vors Tor oder mit dem Gabelstapler, er, Kurbjuweit, und jetzt nahm er wieder Fahrt auf, habe nämlich einen Staplerschein, er könne alle Stapler fahren, alle Sorten, auch Seitenhubstapler und sogar Geländestapler, das hätte er gelernt. Kurbjuweit zählte alle Staplerarten auf, erwähnte beiläufig Schubmaststapler und Vierwegestapler, erklärte ihre technischen Vorzüge und Nachteile, aber in »unserer Firma« habe er nur einen kleinen Mitsubishi gefahren, früher, dann einen ordentlichen Jungheinrich, einen EKX 513-515 mit 80-Volt-Drehstromtechnik, ein schöner forklift, den habe er in den letzten beiden Jahren in dem neuen Schmalganglager gefahren, immer hoch und runter das Ding, bis auf sechs Meter. »Da müssen Sie Augen wie ein Habicht haben und eine ruhige Hand, genau wie beim Schießen. Früher habe ich geschossen. Und ich habe gut geschossen. Immer getroffen. Immer.« Es leuchtete wieder in Kurbjuweits Augen. Jetzt sah er aus wie ein Frosch mit Rundumblick. Ein Frosch mit Habichtsaugen.
    Aber man sprach nicht. Man hatte Mickymäuse auf den Ohren, hockte auf dem Stapler und schwieg. Die anderen würden ihn, Kurbjuweit, wahrscheinlich nicht mögen.
    Warum?
    »Man hat nie groß mit mir geredet.«
    Was sollte man mit dieser Unterhaltungskanone auch groß reden? Über Vulkanisation, Spreizdorne und Drehstromtechnik bei Gabelstaplern? Schlüter griff sich den Schönfelder von der Ablage, dieses dicke sozialdemokratisch-rote Buch der Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit, in dem die biegsamen Gesetze versammelt waren, die seit 1870 vier Herren gedient hatten, sich den Strömungen anpassten wie Seetang. Er überprüfte die Kündigungsfrist. Zwei Monate zum Ende eines Monats. Sie war eingehalten.
    »Gibt es einen Tarifvertrag?«
    Schulterzucken.
    »Sind Sie in der Gewerkschaft?«
    Schulterzucken.
    Eine überflüssige Frage. Die Gewerkschaften verzichteten in den Tarifverträgen auf die Fristen des BGB, als seien diese zu lang. Man verhandelte nur für die, die Arbeit hatten, die anderen mussten klagen.
    Schlüter überlegte. »Meinen Sie, das stimmt mit den betrieblichen Gründen? Gab es einen Rückgang der Aufträge, des Umsatzes?«
    Kurbjuweit zuckte wieder die Schultern. Das konnte er wirklich gut. »Woher soll man das denn alles wissen?«, wiederholte er. Man hatte keinen Einblick. Man war ja nur im Lager. Und man hatte immer zu tun gehabt. Auch in der letzten Zeit. Und das mit dem Rücken. Er verzerrte sein Gesicht.
    »Rücken?«
    Ja, der Rücken sei kaputt. Schon lange. Von der Reifenschlepperei sei es nur noch schlimmer geworden. Und keiner wolle ihn operieren. Kurbjuweit klang weinerlich.
    »Na, freuen Sie sich doch, dass die nicht so schnell mit dem Messer sind, sonst säßen Sie vielleicht schon im Rollstuhl. Manchmal schneiden die nämlich daneben.«
    Im letzten Jahr sei er sechs Monate in diversen Krankenhäusern gewesen, seufzte der Mandant, habe danach eine Kur gehabt, in Bad Bevensen. »Da kommt man über Rade auf der Autobahn hin, nur das letzte Stück ist wieder Landstraße.« So erzählte ein Mann, der nie verrreist war. Seit elf Monaten sei er krankgeschrieben.
    Ob man ihm nicht in Wahrheit wegen seiner Krankheit gekündigt

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