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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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nicht fünfzig wie vorgeschrieben, sondern mindestens hundert. Weshalb die gegnerische Versicherung sich weigerte, ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen. Sie wollten Horeis mit dreißigtausend abspeisen und den Deckel zumachen. Der Junge saß im Rollstuhl und wartete geduldig darauf, dass der Anwalt ihm zu Geld und Zukunft verhalf. Schlüter schlug die Akte auf und rückte das Diktiergerät zurecht.
    Aber Montage lassen sich nicht planen. Das Telefon klingelte. Herr Schulze war am Telefon. Er beschwerte sich über seine Ex, die, während der Ehe vom Engel zur Hexe mutiert, ihm wieder einmal die Kinder verweigert hatte; sie wollten ihren Vater nicht sehen, es liege ihr fern, sie zu zwingen. Schlüter versicherte, er werde den Sachverhalt dem Gericht mitteilen, und legte seufzend auf. Dann rief Herr Müller an und beschwerte sich über die Langsamkeit des Grundbuchamtes, das ihn immer noch nicht als Eigentümer des gekauften Hauses eingetragen habe, ob er, Schlüter, da nicht einmal Druck machen könne. Dabei waren Grundbuchämter die Felsen der Rechtssicherheit in der Brandung unsicherer Zeiten, sie waren die Behördeneichen, an deren rauer Rinde die Bürgerschweine sich ihre Schwarte blutig rieben. Sie übertrafen in Sachen Unfehlbarkeit den Papst, da war Druck zwecklos, Grundbuchämter reagierten nur auf schriftliche Anträge, und zwar in der Reihenfolge ihres Eingangs. Das fand Herr Müller unerhört, er war Chef eines Betriebes in Hollenfleth, der Rohre für das Chemiewerk an der Elbe verlegte, schließlich zahle er Steuern, von denen das Grundbuchamt ausgehalten werde, denen müsse man mal was zeigen. Herr Müller war es gewohnt, allen Problemen mit Druckmachen zu begegnen, und weil er dem Grundbuchamt keinen Druck machen konnte, machte er Schlüter Druck, damit dieser dem Grundbuchamt Druck machte. Er lasse sich das nicht bieten, wenn er so arbeiten würde, wäre er schon längst und so weiter und so weiter. Schlüter hielt den Hörer auf Abstand und nutzte eine Atempause zur Beendigung des Gesprächs. Herr Meier rief an und beschwerte sich über Schlüter, weil er die Klage auf Zahlung der restlichen Nutzungsausfallentschädigung in Höhe von fünfundsiebzig Mark noch immer nicht gefertigt hatte. Es ginge ihm nicht um das Geld, sondern ums Prinzip. Herr Meier war Gerechtigkeitsfundamentalist, wovon es eine Menge gab in diesem Land, und er redete in geschwungenen Achten, seine Nadel hing in der Rille fest, er war einer von den notorisch Unverstandenen, deshalb fing er immer wieder von vorn an. Er könne sich auch einen anderen Anwalt suchen, wenn Schlüter dazu keine Lust habe, die Klage zu fertigen. Und es ginge ihm, »wie gesagt«, nicht ums Geld, darauf sei er nicht angewiesen, sondern ums Prinzip, und er könne sich, »wie gesagt«, auch einen anderen Anwalt suchen. Und dann begann er wieder von Neuem. Schlüter wiederholte Meiers Begehren mit der Einleitung, »wenn ich Sie recht verstanden habe, dann« und in der achten Runde wurde er ihn los. Und Herr Kahlau rief an und ließ sich von Schlüter den Inhalt des Briefes erläutern, den Schlüter ihm geschickt hatte. Das tat Herr Kahlau stets, wenn er Post von Schlüter bekommen hatte, auch ausführliche schriftliche Information half nicht. Vielleicht war er Analphabet.
    Und so weiter. Die Leute hatten sich am Wochenende überlegt, was sie am meisten im Leben störte, um es am Montagmorgen ihrem Rechtsanwalt mitzuteilen. Man verbrachte die ersten Stunden der Woche als Jauchefass und Dranktonne {21} , man ließ sich vollquatschen mit Ärger, Frust, Enttäuschung und Sorge.
    Dabei hatte Schlüter sich an diesem Wochenende nicht besonders erholt, richtige Entspannung war nicht aufgekommen nach dem Besuch bei Schlichtmann. Der Altbauer hatte frohlockend Wache am Fenster gehalten, Rathjens Bullen angefeuert und den Schraubstock um Schlüters taub gewordenen Arm erst nach langen Minuten gelöst, als er sich seiner Geisel sicher fühlte und die Wette gewonnen glaubte. Schlüter hätte viel für einen freien Blick gegeben, aber Schlichtmann wich keinen Millimeter von seinem Beobachtungsposten, keine Sekunde wollte er sich vom langsamen Foltertod des Nachbarn entgehen lassen. Doch dann schlug die Stimmung um. Was da draußen passierte, war offensichtlich nicht mehr nach seinem Geschmack, denn schließlich brüllte Schlichtmann: »Gottverdamminochmool, de Oos, de Deubel!«, ließ sich am Ende wieder in den Rollstuhl fallen und verschanzte sein Gesicht hinter zwei

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