Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
Auffülllöffel ein, schnell, um dem Würgereiz zuvorzukommen und endlich das Gefühl des Sattseins zu erreichen. Das ihm die Angst vor dem Verhungern nimmt.
    Die leere Dose wirft er in die Spüle, flieht ins fremde Wohnzimmer, das er selten benutzt, bis vor die Balkontür, durch die er nie ins Freie tritt. Er meidet den Blick auf die Windmühlen im Feld, sie verdrehen ihm den Magen, und wenn er aufstößt, muss er fort vom eigenen Atem, zurück in die Küche, wo er sich über die Spüle stemmt und tief durchzuatmen versucht. Und dann schafft er die Dose in Mutters Zimmer.
    Jeden Tag zwei Liter Milch weniger. An den Dosen spart er am meisten im Verhältnis zur Bockwurst. Er legt das Geld zurück in die Kaffeedose, 180,- Mark hat er zusammen. 350,- Mark würde es kosten.
    Bald wird er anrufen. Niemand darf ihn dann hören. Die Telefonschnur reicht bis ins Wohnzimmer. Die Tür zum Flur muss fest verschlossen sein. Auch die Fenster, alles. Sonst wird man sein Reden vom Laubengang her hören, neugierig werden, wissen wollen, was Horst Kurbjuweit der Schweiger – auch einer seiner Namen – zu reden hat. Seit Anita ihn vor die Tür gestellt hat wie ein Stück Sperrmüll, ist das Schweigen zu seiner Natur geworden, es ist ihm so natürlich wie andern das unbedachte Reden, der Blick in jeden Spiegel oder das Handabwischen an der Hose, bevor man jemanden begrüßt. Die wenigen Worte, zu denen er genötigt ist, wenn er aus der Tür tritt und es zu Begegnungen kommt, sie sind vertrocknet. Keiner soll denken, er rede aus Einsamkeit mit sich selbst, wie Robinson auf der Insel. Schließlich ist er nicht verrückt und er ist auf niemanden angewiesen, er kommt allein zurecht.
    »Ich komme allein zurecht«, murmelt er und schlurft zurück in die Küche. »Ich werde es schaffen.«
    Mitwisser darf es nicht geben.
    Nur zwei Zeiten gibt es im Jahr, in denen die Leute mit sich selbst beschäftigt sind, die Neugier auf die Nachbarn erschlafft: Weihnachten, nämlich abends nach dem Gottesdienst, wenn die Menschen, die in Gemeinschaft leben, in der Stube beieinandersitzen, die Bescherung feiern, wenn sie trinken und reden, der Zank laut wird im Block und der Feiertag zerbricht; und in der Nacht vom ersten auf den zweiten Januar, wenn sie betäubt in tiefem Schlaf liegen nach der durchzechten Silvesternacht. Horst Kurbjuweit entscheidet sich für Weihnachten.
    Er wirft einen Blick auf seinen Spiegel am Küchenfenster und grinst. Er hat schon lange keine so gute Laune mehr gehabt und er freut sich auf Weihnachten wie in alten Zeiten. Noch gut drei Monate.
    Kurbjuweit setzt sich an den Küchentisch, dreht den Zettel, den er gestern beschrieben hat, er hebt den Kopf, in dem es von Worten nur so braust, er fingert mit dem Bleistift, schiebt ihn zwischen die Lippen, feuchtet ihn an, setzt die Mine auf das Papier. Seine Mundwinkel verschieben sich bei der Anstrengung, der Konzentration, denn es ist wichtig, dass er die richtigen Worte erwischt, sie aufschreibt und ewig macht, in einer ordentlichen, gut leserlichen, braven Schülerschönschreibschrift. Denn er kann gut schreiben, er ist nicht dumm, die Zeilen sind die Planken am Abgrund, die verhindern, dass er stürzt:
     
    Ich habe gerade meine Finanzlage überprüft, und wenn ich da auch prima meine rosarote Brille aufsetze, so ist sie immer noch recht bescheiden. Aber nicht hoffnungslos, nein, verdammt sollen sie sein! Und ich werde auf der Hut sein. Bereitet das Haus! Die letzten werden die ersten sein. Und der Tod ist ewig. Der Tag der Rache wird kommen. Die, die geben können, tun es nicht! Und die, die es tun würden, können es nicht. Es ist zum Kotzen. Ein Schwein bleibt ein Schwein, auch wenn es in Samt und Seide gekleidet ist und Sekt säuft und Kaviar frisst! Es ist zum Mäusemelken! Jetzt muss ich schon jahrelang den Abfall der Wohlstandsgesellschaft fressen!! Das heißt: Billig, billig, billig und fett, fett, fett: billiges Brot, billige Margarine, billige Konserven, fettes Fleisch, fette Wurst, fetter geht’s nicht. Aber der Tag der Rache wird kommen und dann wird es dieser widerlichen Wohlstandsgesellschaft dreckig gehen!! Und dann werden die ihren Dreck selber fressen müssen!! Nieder mit den Reichen. Weg mit den Mächtigen. Weg mit den Sklaventreibern. Die nächste Sintflut ist vorprogrammiert!!

10. Kapitel
     
    In dem Kurbjuweit das alte Spiel Brunnen, Stein,
Schere und Papier verliert
     
    Die Postbotin, die vorher ein Postbote gewesen war. Sie klingelt an der Tür. Er hat

Weitere Kostenlose Bücher