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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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kommt nicht hinter seinen eigenen Bewegungen her, er hätte abwarten müssen.
    »Einschreiben«, sagt die Postbotin und hält ihm ungeduldig mit einem sehr langen Arm den Rückschein und einen Kugelschreiber hin.
    Kurbjuweit hebt seinen Kopf, er sieht jetzt besser: Sie trägt eine Uniform, hat ein Doppelkinn und einen schönen breiten Hintern, das muss er zugeben.
    »Von wem ist das?«, fragt er mit Hoffnung in der Stimme.
    »Keine Ahnung«, antwortet die Postbotin unwirsch, sie dreht sich um ins Licht und liest: »WeGeVau Grundstücksverwaltungs GehmBeHa.«
    »Gehm was?« Von Magda also nicht.
    »GehmBeHa.«
    »Kenn ich nicht«, sagt Kurbjuweit enttäuscht. »Will ich nicht haben.« Er will zurück, zurück an seinen Tisch, um seine Gedanken zu ordnen, die Tür schließen. Aber es ist zu spät.
    »Ist aber umständlich«, sagt die Postbotin scharf. »Dann muss ich den Benachrichtigungsschein hierlassen und nehm den Brief wieder mit, und Sie müssen dann mit dem Benachrichtigungsschein zur Post und den Brief holen. Dann können Sie ihn doch gleich annehmen.«
    »Und wenn ich das nicht mach?«
    Sie verdrehte die Augen, sie hatte keine Scham, es war ihr egal, ob er merkte, was sie von ihm hielt. »Dann schicken wir den Brief nach vierzehn Tagen wieder an den Absender zurück. Annahme verweigert, nicht abgeholt.« Sie war wie alle andern.
    »In Ordnung«, sagt Kurbjuweit trotzig. »Ich will den Brief nicht.«
    »Gilt aber trotzdem wie zugestellt«, zickte sie.
    »Was?!«
    »Ja. Ist so. Die Vorschriften.« Die Frau reckt sich herrisch. Sie hat was zu sagen, sie trägt eine Uniform, ihr kann keiner, sie bestimmt über Leute, sie steht auf einem Thron, einem flachen schäbigen vielleicht, aber immerhin.
    Kurbjuweit denkt: In welchem Land lebe ich? Kann diese Postbotin mich zwingen, einen Brief zu empfangen, den ich nicht haben will? Bin ich nicht ein freier Mensch? Aber so war das wohl. Man war ohne Macht, ein Rädchen eben, das von anderen gedreht wurde.
    »Geben Sie her«, unterwirft er sich, nimmt den Stift und bekritzelt den Rückschein. Er schnappt nach dem Brief und sieht sich den Absender im Adressfenster an. »WGV Grundstücksverwaltungs GmbH«, sagt er. »Geh! Emm! Be! Ha! Nicht GehmBeHa.«
    »Ist doch das Gleiche, oder?«
    »Nein«, widerspricht Kurbjuweit und seine Stimme schallt über den Laubengang bis auf die Straße, wo die Kinder einen langen Hals machen. »Das ist nicht das Gleiche! Wenn ich unterschreibe, dann will ich genau wissen, von wem das ist! Darauf habe ich ein Recht! Geh! Emm! Be! Ha!«
    »Recht!«, wiehert die Postbotin wie ein Brauereipferd, sie dreht sich um und stampft davon. So ein breiter Hintern, der fehlt nur die Genehmigung zum Auf-der-Straße-Scheißen.
    Kurbjuweit atmet schwer, schließt die Tür, er hat verloren, er öffnet den Brief in der Küche mit einem Kartoffelmesser. Während er sich auf den Stuhl sinken lässt, liest er. Die WGV Grundstücksverwaltungs GmbH habe von dem neuen Eigentümer, der WGV Grundstücks AG, den Auftrag zur Verwaltung des Hauses erhalten. Sie überreiche hiermit die Nebenkostenabrechnung für das Kalenderjahr 1997. Herr Kurbjuweit werde gebeten, 412,10 DM nachzuzahlen. Für alle Rückfragen sei Frau Sieber zuständig. Hatte der Steffens also das Haus verkauft und seine Mieter mit. Wie Leibeigene.
    Kurbjuweit lässt den Brief sinken und spürt, wie die Gedanken in seine Eingeweide abstürzen wie ein Fahrstuhl, dessen Seile reißen, und sein Kopf ist leer und heiß. Und doch denkt er, man denkt immer irgendetwas. Der Kopf ist eine Mühle, die immer mahlt. Das Geld hat er nicht. Oder er hat es doch, bald jedenfalls, aber das ist verplant. Und noch mehr wird er nicht zusammenbekommen, er wird es nicht schaffen, dieses Fleisch weiter zu essen, er sehnt sich, dass es einmal ein Ende hat mit diesem Fleisch.
    Gibt es noch eine Möglichkeit?, fragt er sich. Kann er nicht zum Amt gehen? Das Sozialamt wird die Kosten übernehmen, ja, so könnte es gehen. Aber dann fällt ihm dieser andere Brief ein. Kein Einschreiben, ein einfacher harmloser Brief, den er letzte Woche bekommen hat, den er ungeöffnet im Wohnzimmer auf den Schrank gelegt hat, weil er ihn ein andermal lesen wollte, und dann hat er ihn vergessen. Nein, er hat ihn nicht vergessen, er hat nur versucht, nicht an ihn zu denken.
    Während Kurbjuweit ins Wohnzimmer geht, wächst in ihm eine Gewissheit, dass es so weitergehen wird mit ihm, immer weiter bergab, immer langsam schräg hinunter. Er weiß, wer

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