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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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sie im Spiegel gesehen. Sie steht vor seiner Tür und lauert ihm auf. Was will sie? Wieso steckt sie die Sendung nicht unten im Treppenhaus in den Briefkasten, der zwischen den andern gleich neben der Eingangstür hängt?
    Kurbjuweits Gedanken rasen, aber wohin? Das Denken fällt ihm schwer, weil Denken eine exakte Angelegenheit ist, die keine Ablenkungen duldet, sonst gerät man auf Abwege und findet nicht zurück. Man braucht Übung, man muss sich konzentrieren, um Gedankenworte festzuhalten, Sätze vielleicht, aber Kurbjuweit fühlt nur Angst, das Gefühl kennt er am besten. Seine Gedanken schwappen hektisch umher wie das Wasser bei Teufelsbrück im Hamburger Hafen, mal hierhin, mal dahin, ohne Ziel. Das hat er einmal gesehen, auf einer Hafenrundfahrt mit den Eltern, das war seine längste Reise nach der großen Flucht, sie haben einen Ausflug gemacht und ihn mitgenommen. Wie das Wasser wütend gegen die Spundwände anrennt, wie es strömt, wühlt und kreiselt und nicht weiß wohin, und doch gehorcht es Ebbe und Flut zur vorbestimmten Zeit, die man für die nächsten hundert Jahre und noch länger auf die Minute genau ausrechnen kann, das große Uhrwerk ist präzise, seine Räder drehen sich unerbittlich, aber man ist nur ein kleines Rad und kann seine Gezeiten nicht ändern. Kurbjuweit kann nicht mehr denken, er hat es absacken lassen in seinen schweren Bauch, da unten matscht es sich mit der Milch, die er getrunken hat, und dem Brot, das er gegessen hat, und dem Fleisch, das er heruntergewürgt hat, es ist ein schleimiger Brei, sauer und grau, aus dem man keine klaren Beschlüsse ziehen kann.
    Die Postbotin klingelt zum zweiten Mal, sie drückt mit ihrem Zeigefinger Kurbjuweits Gedanken wieder hoch, sie quetscht sie in seinen Kopf und er weiß: Das ist ein Einschreiben. Er muss bestimmt den Empfangsschein unterschreiben. Deshalb klingelt die Postbotin. Weil er unterschreiben muss. Sonst macht das keinen Sinn.
    Aber wer zum Teufel schickt ihm ein Einschreiben? Ihm fällt nur Magda ein. Sie ist die Einzige, die ihm noch Briefe schreibt. Sie fragt ihn, wie es ihm geht, sie gibt ihm Ratschläge, die er zwar nicht alle gebrauchen kann, aber darauf kommt es nicht an, sie denkt an ihn, das merkt man, davon wird einem warm, davon taut das Eis ein wenig um einen herum wie im Winter um die Grasbüschel im Brachland unter dem Balkon, mit so einer wie Magda könnte ich leben, denkt Kurbjuweit, aber er ist ja mit ihr verwandt, sie ist seine Cousine, und außerdem ist sie schon verheiratet, wie mag sie aussehen, er hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Aber nun verschlingt sich sein Denken schon wieder mit den Eingeweiden, mit den Därmen, die unter dem gelben Fett seines Bauches eingesperrt sind, die Gedanken drehen sich im Kreis und werden schwindlig und faulig und müde.
    Jetzt klingelt es das dritte Mal. Verflucht, wie sollte man klar denken, wenn es dauernd klingelt?! Manchmal steckt Magda sogar etwas Geld mit hinein. Und das ist ziemlich gefährlich. Es soll Leute bei der Post geben, die die Scheine aus den Briefen fingern. Das hat er ihr auch geschrieben; sie solle vorsichtig sein. Und deshalb hat sie ihm jetzt das Geld mit Einschreiben geschickt. So muss es sein. Das Geld kann er gut brauchen, für den großen Plan, den er hat.
    »Ich komm ja schon«, ruft Kurbjuweit. Er stemmt sich mit den Fäusten auf den Tisch, an dem er sitzt, mit seinem schweren Kopf, der fast bis auf die Tischplatte hängt, in dem es braust, er darf keine schnellen Bewegungen machen. »Ich ko-homm!«, schreit er, er hat schon lange nichts Lautes mehr gesagt, es hört sich an wie von einem anderen, er drückt sich hoch und schiebt den Stuhl zurück, es scharrt hässlich auf den Fliesen, er hält sich am Türrahmen fest und will warten, dass der Schwindel nachlässt, aber da klingelt es schon wieder, wütend und lange.
    »Jaha!!«, brüllt er, und während er die wenigen Schritte zur Eingangstür zurücklegt, müht er sich um einen geraden Rücken. Doch wird nicht viel daraus, und als er den Schlüssel herumgedreht, den Riegel zurückgeschoben und die Kette ausgehakt hat, steht er krumm und mit verzerrtem Gesicht vor der Postbotin. Bleich ist er, er blinzelt ins flache Oktoberlicht und bringt nichts heraus; er atmet schwer und stützt sich wieder am Türrahmen ab, denn der Schwindel ist immer noch da, es ist schlierig vor den Augen und er hat Angst, ohnmächtig zu werden, das kommt von den schnellen Bewegungen, die man nicht gewöhnt ist, man

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