Die Oder Ich
zu hören. Er lächelt zufrieden, es gibt immer etwas, was einen zufrieden machen kann.
Kurbjuweit betritt Mutters Schlafzimmer nur, um die Dosen loszuwerden. Denn er muss über die Stelle treten, an der Mutter gelegen hat, und davor graust es ihn. Daran kann er sich nicht gewöhnen. Er stapelt die Dose auf die andern auf die Fensterbank, vor die zugezogene Jalousie, er hat schon dreieinhalb Reihen voll. Es macht nichts, wenn man die Jalousie nicht mehr hochziehen kann, sie ist sowieso immer unten. Er schlurft zurück in die Küche und zählt das Geld.
Er will, dass sich das Gefühl von Lust und Zuversicht in ihm ausbreitet, denn Großes wird geschehen. Es muss. Er wird es schaffen, Kurbjuweit lächelt und leckt sich die Lippen. Und wenn er das geschafft hat, wird er auch alles andere schaffen.
Man erreicht mehr, wenn man sich auf das Mögliche beschränkt. Er hat es ohne Fleisch versucht, nachdem alle Würstchen gegessen waren. Er hat einfach keine neuen bestellt, doch ertrug er die Angst nicht, die ein leerer Magen macht, Fleisch ist ein Stück Lebenskraft, wie es ein Brot nicht geben kann. Der Hunger fraß wie eine Hyäne in seinen Eingeweiden. Ein Wochenende ohne Fleisch und Vorräte, nur mit Milch, Käse und Brot, das würde er nicht wieder durchstehen. Gleich am Montag in der Frühe war er aufgebrochen zum Supermarkt, er konnte nicht auf Kevin warten, er musste mit Schmerzen unter den Augen der Leute durch die lange Siedlungsstraße mit ihren gefegten Gärten und gestutzten Hecken, vorbei an den Rasen mit Rasenkanten, vorbei an allen Sorten Zäunen. Jeder hatte einen anderen, hölzerne, metallene oder lebende, es gab unendlich viele verschiedene Zaunsorten, aber unter allen wurde die Erde geharkt, damit nichts wachsen konnte, da waren sich alle einig. Alle hatten sie einen schieren Garten, die Bewohner belauerten ihn durch die grauen Gardinen, manche waren auch draußen zugange: Frau Ehlers stand gebeugt über ihre Rhododendren und zupfte Spinnenweben, Herr Kahrs hockte auf seiner gepflasterten Auffahrt und fegte mit Kehrschaufel und Handbesen Regenwurmkacke, Herr Köhlmann stach seine gestochene Rasenkante, Frau Hinrichsen kratzte Moos aus den Ritzen ihrer Terrassensteine, tief bückte sie sich hinunter, sie sah von hinten aus wie ein Fahrradständer, Frau Büther hackte zwischen ihren Stiefmütterchen, die ihr Mann mit dem Zollstock gepflanzt hatte. Und alle drehten sich nach ihm um, als er vorbei war, das wusste er, und er wusste auch, was sie dachten: Siehe, da geht Horschi der Regenwurmesser, mit seinem dicken Bauch und schwingenden Armen geht er, seht seine schmutzige Jeans, warum hat er sie nicht längst gewaschen? Seht, wie die Zipfel seiner ausgeleierten Strickjacke auf den fetten Oberschenkeln schlottern, seht seine struppigen Haare, die ihm hinten am Kopf hängen, wie sieht das aus, wann war der zuletzt beim Friseur? – Wohin geht er, was mag er vorhaben?
Ja, was mag er vorhaben?
Er hat Großes vor.
Die Hälfte hat er zusammen, sogar etwas mehr, unglaublich. Kleinvieh macht auch Mist. Seit drei Monaten streicht er täglich zwei Liter Milch, ersetzt sie durch Wasser aus dem Hahn und die fünf Gläser Bockwürstchen pro Woche durch je eine dieser Dosen. Die Gier schlägt ihn, hält ihn zwischen ihren Klauen, zwingt ihn zu engen Kreisen durch Küche und Wohnzimmer, bis er vor dem Kühlschrank endet, ihn anstarrt zwei Atemzüge lang. Er reißt ihn auf, packt die bereitgestellte Dose, öffnet sie, wirft sich über sie, löffelt sie schmatzend aus, sein Arm geht hastig auf und nieder.
Für einen Regenwurmesser und Sohn eines Fröscheessers war das auch nur Fleisch. Mit Soße sogar und sicher besser als die Würstchen, jedenfalls nicht schlechter als das, was in ihnen steckt, Fleisch, das man in den Schlachthöfen bei Schichtende aus den Ecken kehrt, das schon grünblau schimmert wie die Flügel der Schmeißfliegen im Sonnenlicht. Anfangs hat er die Dosen erwärmt, in heißes Wasser gestellt, aber mit der Hitze steigt ein Geruch empor, ein Dunst der Angst, wie über brodelnden Kesseln, in denen Gekröse, Bries, Hufe, Köpfe, Sehnen und die borstigen Schwarten im Blut abgestochener Tiere kochen, ein Dunst, der sich gespenstig auf jedes Ding legt wie ein lichtloser Alp und nach Stunden noch aus den Ritzen der Sitzgruppe im Wohnzimmer kriecht, ihm den Ekel in die Kehle treibt. Deshalb isst er das Fleisch jetzt kalt aus dem Kühlschrank, schaufelt die würflige, gallertartige Masse mit dem großen
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