Die Oder Ich
der andere dünkte. Wieso hatte nie einer gemerkt, dass dem Mann gar keine Rippe fehlte? Hinterher über die Blödheit der Vorfahren zu lachen war leicht, aber Jahrhunderte vorher zu wissen, was richtig ist: alle Achtung!
»Hör mal«, sagte Schlüter, »was hier steht. Also: …« Er räusperte sich und legte sich die Worte zurecht.
Aber Christa antwortete nicht. Sie stand an der Terrassentür und hebelte sie auf. Sie lauschte in die Dunkelheit.
»Pass auf die Mücken auf«, warnte Schlüter. Auf dem Land lebte man in der Natur und mit den Tieren, aber nicht alle waren dem Menschen wohlgesonnen. Vermutlich sogar die wenigsten. Abends hatten die Mücken die Lufthoheit, während die Schnecken, diese schleimigen Partisanen, aus dem feuchten Gras in die Pflanzungen invasierten, um sie zu verwüsten. Schlüter las den Absatz ein weiteres Mal.
»Komm schnell raus!«
Schlüter drückte sich aus dem Sessel und spürte seine Knochen. Man ging auf die sechzig zu, man rostete auf dem Sessel und brauchte ein paar Schritte, bis nichts mehr quietschte und ein aufrechter Gang zustande kam.
Dann stand er neben ihr. Ein lauer Abend. Es nieselte noch immer, die Bäume wisperten miteinander, wie sie es gern in den kurzen Sommernächten taten.
»Hörst du das?«
Schlüter spannte seine Sinne.
»Die Blätter rauschen ein bisschen«, sagte er und schmiegte seine Hand um Christas Hüfte, während Kater Gustav um ihre Füße strich. Wie hätte aus einem harten Knochen je etwas so Weiches und Rundes werden können? Die Bibel spinnt, dachte er. »Sag mal, glaubst du, du bist aus einer Rippe gemacht?«
»Psst!« Sie hielt seine Hand fest.
Schlüter schloss die Augen, um besser hören zu können. Und jetzt vernahm auch er eine Stimme, ein Mensch war irgendwo im Schatten der Nacht.
»Ratunku … ratunku …«
»Hä? Ra-, was?«
»Da schreit einer«, behauptete Christa.
»Und wieso?«
»Ja, was weiß ich?!«
»Und wieso so komisch?«
»Ratunku … ratunku …« Ganz deutlich.
Zwei Minuten später hatten beide ihre Stiefel angezogen und hasteten, einander an den Händen haltend, die finstere Auffahrt zur Straße. Über ihnen keckerten die Fasane, die sie in ihrer Nachtruhe störten. Als sie aus dem Schatten der Bäume traten, entdeckten sie in ungefähr zweihundert Meter Entfernung das Licht, einen matten Discostrahler, einen hellen Nebel, der die nassen Wolken von unten beleuchtete. Sie begannen zu rennen.
Zweihundert Meter schafft man in dem Alter nicht mehr, ohne dass man merkt, wo die Lungenspitzen sitzen. Das Licht gehörte zu einem Auto, das links im Graben lag und blinkte.
»Mein Gott, was …?«
Schlüter wurde übel. Die Axt der Erinnerung spaltete ihm den Schädel, er sank in die Knie, er kroch auf dem Asphalt fort, er hielt sich die Ohren zu, er wartete auf die Schüsse und das Geschrei der Partisanen, damals in der Türkei …
»Warum?«, murmelte er.
Christa schrie: »Peter, wo bist du, wir müssen … der Notarzt …«
»Ratunku …«
Ein Knirschen. Ein Keuchen. Es rührte sich etwas in dem Graben. Ein Mensch ächzte.
»Ratunku …«
Schlüter nahm die Hände vom Gesicht und stand langsam auf. Ein Mann tauchte aus der Schwärze der Grabenböschung in das gelbe Licht des Blinkers. In Zeitlupe erhob er sich stöhnend, schwankte auf Schlüter zu, die Augen weit aufgerissen, die blutigen Hände vor seinem Bauch verkrampft im eigenen Gedärm.
»Ratunku …«, krächzte er.
Bleichrosa, blau geäderte wulstige Därme. Sie hingen dem Mann wie riesige Spaghetti zwischen den Händen herunter, bis zu den Knien. Schlüter verlor die Besinnung und schlug hart auf die Straße.
9. Kapitel
In dem wir lesen, wie weit es Horst Kurbjuweit
mit der Sparsamkeit treibt
Mittwoch, 16. September. Die Nächte sind schon kühl und die Tage kürzer, aber das registriert Horst Kurbjuweit nicht.
Während er die Dose auswäscht, denkt er darüber nach, wie einfach alles sein könnte. Während andere ihren Reichtum für sich behalten, spart er sich jeden Pfennig vom Munde ab. Ist das gerecht? Quälerei ist das, aber er wird es schaffen, auch wenn er ganz auf sich allein gestellt ist.
Er biegt den Dosendeckel ab. Es ist wichtig, dass der Deckel ab ist, sonst kann man die Dosen nicht stapeln. Er legt den Deckel in die Dose und sieht zu, wie er zu Boden sinkt, flach auf dem Boden der Dose liegt und man nicht mehr sehen kann, dass es einmal ein Deckel gewesen ist. Er schüttelt die Dose, und es ist nicht das kleinste Klimpern
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