Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
diesen ersten Brief gesandt hat und was darin steht. Er muss ihn jetzt öffnen, eine Faust hat seinen Nacken gepackt, sie drückt ihn in den Teller mit dem ausgekotzten Porree, er muss Gewissheit haben, denn der schöne Glaube an die Hämorrhoiden hilft nicht mehr, wenn du Blut im Stuhl hast.
    Kurbjuweit nimmt den Brief vom Schrank, in dem hinter einer Glasscheibe die Pokale stehen, die er gewonnen hat, aber sie bedeuten nichts mehr, sie zeugen von einem anderen Leben, aus dem er wegen Rathjens herausgeflogen ist. Er fragt sich nicht, ob das so sein musste, ob er dem Rathjens nicht hätte widerstehen können, mit Widerstand kennt er sich nicht aus, er kennt sich nur mit Niederlagen aus, mit Gehorchen und Abwarten und Ausweichen und nichts Abkriegen, er trägt den Brief in die Küche und legt ihn auf den Tisch. Er starrt ihn an, und wenn man jetzt vom Laubengang her an das Fenster schleichen und in den Spiegel blicken könnte, dann würde man sehen, wie ein dicker Mann mit vorstehenden Augen, die Fäuste aufgestemmt, sich sinken lässt auf seinen einsamen Stuhl, am Tisch sitzt, auf dem drei sorgfältig geschichtete Stöße Papier liegen, links die Reklamezeitungen der letzten beiden Monate, rechts die Reklamezettel, die mit der Zeitung geliefert wurden, in der Mitte die Zettel, die Kurbjuweit selbst beschrieben hat, die Buchstaben sind das Treibholz, das er aus dem Strom seiner Gedanken fischt. Man könnte sehen, wie er den Brief zwischen seinen dicken Fingern hält, zögert, tief einatmet, dann zum Kartoffelmesser greift, das Kuvert aufschlitzt, das Papier herauszieht, mit der irrsinnigen Hoffnung, dass er sich irrt, wie er sein Urteil liest, wie seine Lippen beben, wie seine bleiche, weiche Faust das Papier zum Zittern bringt, wie sie langsam zurücksinkt auf den Tisch, wie sein Kopf absackt, das Doppelkinn Falten wirft, wie er aufstöhnt, wie Tränen aus seinen schiefen Augen rollen und auf seinen dicken Bauch tropfen, wie ein Schluchzen seinen mächtigen Körper aufbeben lässt, und immer wieder, wie er nach Luft schnappt.
    Wie ein paar Blätter dünnes Papier einen Menschen zerbrechen, der hundertzwanzig Kilo wiegt.
    Und endlich: wie er bewegungslos wird wie eingefroren, wie er steif sitzen bleibt im bleifarbenen Halblicht seiner Küche, die starken Hände so untätig auf dem Tisch, den Blick ins Nirgendwo.
    Der kleine Horschi, der so dick und groß geworden ist.

11. Kapitel
     
    In dem es Schlüter auch nicht besser geht,
jedenfalls bildet er sich das ein
     
    Erster Advent, die besinnliche Zeit hatte begonnen, die so hektisch ist wie keine andere im Jahr. Die Christenheit hat den armen Jesus in Frührente geschickt und an seiner Stelle den dicken roten Mann engagiert, der für bessere Umsätze sorgt. Ab morgen die ungeduldigen Leute, die unbedingt ihr Problem noch in diesem Jahr gelöst haben wollten. »Schaffen Sie das noch dieses Jahr, Herr Schlüter?« Als gebe es kein nächstes. Und heute das Vorgrausen. Schlüter legte das Buch beiseite und ging im Wohnzimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken, blieb vor der Terrassentür stehen. Es war bewölkt und nieselte, bald würde es dunkel werden, noch bevor es richtig hell geworden war. Es war ungemütlich draußen, weshalb Kater Gustav die Jagd ausfallen ließ und auf dem Sessel schnurrte.
    Christa kam aus dem Garten, wischte sich schwungvoll die nassen Hände an der Hose ab. Sie hatte Möhren und Rote Bete mit Laub bedeckt, um sie vor eventuellem Frost zu schützen. »Ich mach mir einen Tee, du auch einen?«
    »Mhh.«
    »Willst du einen oder nicht?«
    »Joa, von mir aus.«
    »Was ist mit dir los?«, fragte Christa. »Du machst einen unzufriedenen Eindruck.«
    In der Tat. Unzufrieden. Aber womit?
    »Ich komme mir vor, als sei ich auf der Suche nach der verlorenen Zeit und würde wie Proust nichts selbst, sondern alles nur aus zweiter Hand erleben«, begann Schlüter. Ein Gefühl, das nicht neu war, sondern ihn auch schon in vergangenen Jahren immer wieder heimgesucht hatte. Während er an seinem abgewetzten Schreibtisch hockte, tagaus, tagein, fand das bunte Leben da draußen ohne ihn statt.
    Christa goss den Tee auf und schüttelte den Kopf. Das, was an seinem Schreibtisch stattfinde, sei doch auch das bunte Leben. »Willst du etwa die Ehescheidungen selbst erleben?«
    Nein, das nicht.
    »Oder die Verkehrsunfälle?«
    Nee, die auch nicht. Der Mann mit den Gedärmen im Juli hatte gereicht. Dessen Hände, verkrampft in den eigenen Eingeweiden: Dieses Bild

Weitere Kostenlose Bücher