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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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für einen Sinn machen?«
    »Du musst mal raus aus deinem Trott«, schlug sie vor. »Und wir müssen mal weg. Und wenn wir bloß nach Helgoland fahren.«
    Was sollte er auf Helgoland? Im Kreis laufen? Im Winter? Ich sollte aufhören, dachte Schlüter und überlegte, ob er es aussprechen sollte. Aber was man ausgesprochen hat, kann man nicht mehr zurücknehmen, ein Wort steht in der Welt wie ein Stuhl im Zimmer, man kann ihn nicht mehr wegzaubern.
    »Vielleicht solltest du aufhören«, sagte Christa leise und stand auf. »Findest du nicht, dass wir einen Adventskranz haben sollten? Heute ist doch erster Advent.«
    »Hast du einen gebunden?«
    Christa nickte.
    »Schön«, sagte Schlüter. »Schön.«

12. Kapitel
     
    In dem Horst Kurbjuweit sich selbst erkennt
und wir einen heiligen Nachmittag erleben
     
    Nachmittag am Heiligabend. Noch zwei Stunden.
    Was Zukunft ist, hat er vergessen. Seit dem ersten Advent rast die Zukunft auf Kurbjuweit zu. Wie ein Meteorit, die Wissenschaftler haben seine Flugbahn berechnet, er wird dich treffen.
    Er hatte es sich abgewöhnt, Beschlüsse zu fassen, Künftiges zu planen. Die Gegenwart ist ein schwerer zäher Brei, der aus den Zutaten der Vergangenheit gekocht ist. Schlechte Zutaten sind es, aber man frisst ihn auf, man kotzt ihn aus, man frisst ihn wieder, wie damals den Porree. Nur mit dem Unterschied, dass man die Vergangenheit niemals verdaut und niemals ausscheißt. Sie bleibt in einem drin.
    Wenn man aber etwas geplant hat, ist das anders. Das wichtige Ereignis rückt immer näher. Es nimmt Besitz von deinen Gedanken. Du hast keine Zeit mehr, dich mit der Vergangenheit zu befassen. Die Vergangenheit schrumpft zu einem kleinen Steinchen zusammen, du kannst sie einsperren in der dunklen Hosentasche, mit dir herumtragen und nicht mehr an sie denken, ja, vielleicht kannst du sie sogar wegwerfen, dann hast du nur noch die Zukunft – und die Gegenwart, um sie zu gestalten. Du malst es dir aus, das Ereignis. Und dabei rückt die Zukunft immer näher an dich ran, Woche für Woche, Tag für Tag.
    Es war am ersten Advent, als Kurbjuweit seine Wohnung plötzlich mit den Augen eines Fremden gesehen hat. Oder: einer Fremden. Das konnte er vorher nicht.
    Die Küche sah fürchterlich aus. Vor allem der Tisch, es lagen zwei große Stapel mit dem Wochenblatt und mit Reklame darauf, dazwischen der Haufen mit den Zetteln, die Kurbjuweit mit seinen Vorsätzen beschreibt, die er nie ausführt. Obenauf ein Zettel mit lauter Unterschriften, er hat ausprobiert, wie die Unterschrift eines erfolgreichen Mannes aussehen muss: Unleserlich muss sie sein, lässig hingeworfen, aber nicht angeberisch groß, jedenfalls nicht so brav wie seine ordentliche Schuljungenschrift, die nimmt keiner ernst. Eigentlich kann er alles wegwerfen, hatte er gedacht, aber wohin mit dem Zeug? Und die Zettel sollte kein Fremder lesen, der später darüber lacht. Kurbjuweit hatte schon Mühe, die Zettel vor Kevin zu verstecken, wenn er den Einkauf bringt und einen Kakao trinkt. Also hat er sich überwunden und das ganze Papier vom Küchentisch in Mutters Zimmer geschafft, wo schon die Dosen auf dem Fensterbrett gestapelt sind, bis ganz oben. Dort hat er es unter das Bett geschoben, hinein in den Staub. Etwas lag unter dem Bett, etwas, gegen das der Stapel mit den Zeitungen gestoßen ist, etwas Fremdes im Schlafzimmer seiner Eltern. Obwohl er so ein Gefühl hatte, dass es etwas Wichtiges ist, hat er sich nicht gebückt. Er ist nicht auf die Knie gegangen, um nachzusehen, was es war, um ordentlich Platz für die Zeitungen zu machen, er hat nur die Zeitungen mit dem Fuß unter das Bett gestoßen, gegen das, was dort schon lag, schob es weiter unter das Bett, bis auch die Zeitungen nicht mehr zu sehen waren. Er hat auch alles andere, was er nicht gebrauchen konnte, aber nicht mehr losgeworden ist, in Mutters Zimmer gestellt, vor allem die vielen Kartons aus dem Flur, in denen Kevin immer die Lebensmittel bringt, mit denen hat er Vaters Betthälfte vollgestapelt, sie sind wie eine Wand vor Mutters Bett und versperren die Sicht darauf.
    Die Küche: Wer hat schon auf der Anrichte in der Küche einen Fernseher stehen? Gegenüber das lächerliche Radio, ein großer Kasten aus den Fünfzigerjahren, mit einem großen Rad, an dem man die Sender einstellt.
    Der Abfalleimer war voll, es standen Plastiktüten mit Müll mitten in der Küche, seit Wochen, er hatte es nicht geschafft, sie nach unten zu bringen, weil er sich nichts mehr

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